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D: Streit um Gesundheitsreform

Die deutsche Gesundheitsreform steht wieder auf der Kippe. Mit mehr als 100 Änderungsanträgen der Länder ist in der Koalition der Streit über das zentrale Vorhaben voll entbrannt.

Schon in den vergangenen Monaten hatte die Reform das Bündnis in eine tiefe Krise gestürzt. Mehrere unionsregierte Länder drohen nun mit einem Nein, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Ein Start der Reform zum 1. April scheint wieder zweifelhaft, ebenso die angestrebte Sparwirkung von 1,4 Milliarden Euro in 2006. Die Haupt-Knackpunkte im Überblick:

FONDS: Ein Streitpunkt bezieht sich auf das Kernstück der Reform – den Gesundheitsfonds. In ihn sollen ab 2009 die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern fließen, von dort wird das Geld an die Kassen verteilt. Unter den Kassen findet je nach Alter und Krankheit der Versicherten ein Finanzausgleich statt. Reiche Länder fürchten jedoch, dass ihre eher finanzstarken Kassen über Gebühr belastet werden. Schon in den Verhandlungen gab es darüber erheblichen Streit. Am Ende verständigte man sich auf eine Konvergenzklausel, wonach die Mehrbelastung für ein Land pro Jahr um maximal 100 Millionen Euro steigen darf. Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber machte das Fass nun neu auf. Ebenso wie Baden-Württemberg und Hessen fürchtet der Freistaat eine zu hohe Belastung. Die Länder beziehen sich auf ein neues Gutachten des Instituts für Mikrodatenanalyse in Kiel. Die Ministerpräsidenten verlangen von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt belastbare Zahlen, ohne die sie der Reform nicht zustimmen wollen. Die Fachleute des Ministeriums halten die Berechnungen für nicht nachvollziehbar, und auch Unions-Fraktionschef Volker Kauder hat erklärt, viele der kursierenden Summen seien nicht realistisch.

PRIVATE KRANKENVERSICHERUNG (PKV): Die Unions-Länder sehen in den geplanten Neuregelungen für die PKV eine Gefahr für den gesamten Versicherungszweig. Künftig sollen die privaten Kassen einen Basistarif einrichten, dessen Beitrag nicht höher sein darf als der Durchschnittssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung. In den Basistarif sollen freiwillig gesetzlich Versicherte sowie ehemals privat Versicherte eintreten dürfen, ohne dass eine Gesundheitsprüfung stattfindet. Um den Wechsel zwischen privaten Kassen zu erleichtern, sollen angesparte Altersrücklagen mitgenommen werden können. Als Folge der Regelungen fürchtet die Union für Altkunden um 30 bis 40 Prozent höhere Beiträge. Dies könnte aus ihrer Sicht zu einem verfassungsrechtlichen Problem werden. Die Union will die PKV-Regeln zudem nicht 2008 sondern erst ein Jahr später einführen. Unklar ist, wer den Beitrag für verarmte arbeitlose PKV-Mitglieder übernehmen muss.

KRANKENHÄUSER: Die Kliniken sollen im Zuge der Reform einen Sanierungsbeitrag in Höhe von einem Prozent ihres Budgets zahlen, was eine halbe Milliarde Euro pro Jahr ausmacht. Die Unions-Länder lehnen dieses Sonderopfer ab, weil sie um die Existenz vieler Kliniken fürchten.

RETTUNGSDIENST: Die Länder wenden sich gegen Abschläge bei Rettungsdiensten. Die geplante pauschale Kürzung um drei Prozent sei für diese nicht verkraftbar und führe zu Versorgungslücken.

INSOLVENZRECHT: Das Insolvenzrecht soll auf die Kassen übertragen werden. Die Kassen können damit leichter pleite gehen. So sollen sie veranlasst werden, keine Schulden anzuhäufen. Die Länder wollen eine lange Übergangsfrist, die Schmidt bereits zugesagt hat. Zudem sehen sie weitere Fragen als ungeklärt an, etwa wer bei Insolvenz für offene Rechnungen aufkommen muss.

KASSENBEITRAG: Die Höhe des Beitragssatzes an den Fonds soll ab 2008 von der Regierung bundeseinheitlich festgelegt werden. Die Unions-Länder wollen hier mitbestimmen. Nordrhein-Westfalen argumentiert, die Länder würden auch beim Rentenbeitrag über den Bundesrat einbezogen.

KASSENSCHULDEN: Der Gesundheitsausschuss des Bundesrates hat empfohlen, die Frist bis zu der die Kassen entschuldet sein müssen, generell auf Ende 2008 zu verlängern. Bis dahin sollen sie eigentlich nur Zeit erhalten, wenn sie ein schlüssiges Entschuldungskonzept vorlegen.

STEUERMITTEL: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer und Juristen sehen verfassungsrechtliche Probleme, wenn mit Steuermitteln nur die Kinder-Mitversicherung der gesetzlichen Versicherung unterstützt wird, nicht aber die der PKV.

VERSICHERUNGSPFLICHT: Unklar ist, wie einem Vorteils-Hopping begegnet werden kann, bei dem junge und gesunde Privatversicherte sich aus ihrer Kasse verabschieden und bei Krankheit oder im Alter aufgrund der neuen PKV-Regeln in den Basistarif zurückkehren. Die SPD setzt hier auf ihr altes Modell einer Versicherungspflicht.

APOTHEKER: Auch das Einsparvolumen bei den Apotheken in Höhe von 500 Millionen Euro steht wieder in Frage.

Deutsche Gesundheitsministerin weist Gesundheitsreform-Kritik zurück

Die deutsche Gesundheitsministerin Ulla Schmidt hat die Befürchtungen von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zurückgewiesen, dass sie wegen des neuen Gesundheitsfonds zusätzliche Lasten in Milliardenhöhe schultern müssten. Sie habe keine Veranlassung, an Berechnungen des Bundesversicherungsamts zu zweifeln, die von sehr viel geringeren finanziellen Lasten ausgingen, sagte Schmidt am Montag in Berlin.

Im Übrigen greife die im Gesetz vorgesehene Überforderungsklausel, die auf Wunsch Bayerns eingefügt worden sei, so Schmidt. Diese sieht vor, dass die zusätzliche finanzielle Belastung bei nicht mehr als 100 Millionen Euro pro Jahr und Land liegen darf. „Deshalb verstehe ich die ganze Aufregung nicht“, sagte die SPD-Politikerin. Sie „behalte die Ruhe“ und werde eine eigene Bewertung der neuen Studie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft vorlegen, auf die sich die Unionsländer mit ihrer Kritik stützen.

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