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Brüssel: Armenier erinnern an Völkermord

Mitten im politischen Ringen um den EU-Beitritt der Türkei wirft das Gedenken an den Beginn des Völkermords an den Armeniern vor 90 Jahren seine Schatten voraus.

Die europäischen Armenier-Organisationen – unter ihnen auch die einflußreichen „Daschnaken“ (Sozialdemokraten) – haben für 17. Dezember zu einer „großen Kundgebung der Armenier Europas“ in Brüssel aufgerufen. Dabei werden mindestens 10.000 Teilnehmer, vor allem aus Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern, erwartet, wie Kathpress berichtet.

Dem nach Meinung vieler Historiker generalstabsmäßig durchgeplanten Völkermord des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fortschritt“ (Ittihad ve Terakki) – das während des Ersten Weltkriegs die kaiserlich-osmanische Regierung stellte – dürften zwischen 1915 und 1918 rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein. Europa müsse die Türkei verpflichten, sich ihrer Geschichte zu stellen, den Völkermord anzuerkennen und eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber der Republik Armenien einzunehmen, sagte der Sprecher des Zentralrats der Armenier in Deutschland, Minas Awakian, zur deutschen katholischen Nachrichtenagentur KNA. „Ohne Erfüllung dieser Vorbedingungen darf es keine Verhandlungen über einen Beitritt Ankaras geben“, forderte er.

Das Osmanische Reich versuchte in der „Tanzimat“-Periode (1839-1879) eine Erneuerung der staatlichen Organisation zu erreichen; im Zug der „Tanzimat“-Reformen wurde u.a. die vom islamischen kanonischen Recht („Sharia“) gebotene Benachteiligung der christlichen Staatsbürger aufgehoben. Daher war es kein Zufall, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führende Positionen des osmanischen Staatsapparates – vor allem in der Diplomatie – von Armeniern und Griechen besetzt werden konnten. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert fand allerdings das chauvinistische und rassistische Gedankengut Europas zunehmend auch in der türkischen Intelligentsia Widerhall; viele Historiker sehen die panturanistischen (pantürkischen) Träume der „Jungtürken“ spiegelbildlich etwa zu den Fantasiegebilden der „Pangermanisten“ in Mitteleuropa. Der alte osmanische Machtapparat mit dem Sultan an der Spitze versuchte, im Sinne des Machterhalts zwischen den verschiedenen Strömungen zu lavieren.

Obwohl die Armenier insgesamt zu den treuesten Bürgern des osmanischen Staates zählten, ließ Sultan Abdülhamid II. zwischen 1894 und 1896 zirka 100.000 bis 200.000 Armeniern ermorden. Dabei achtete der Sultan – einer der raffiniertesten Politiker seiner Zeit – darauf, dass das offizielle osmanische Establishment nicht „beschmutzt“ wurde. Vielmehr wurden die Ausschreitungen gegen die Armenier den paramilitärischen „Hamidiye“-Milizen überlassen. Die „jungtürkische“ Revolution von 1909 mit ihren anfänglichen Versprechungen von Gleichberechtigung und Rechtssicherheit wurde zunächst auch von der armenischen Bevölkerung stürmisch begrüßt. Dies löste aber die Reaktion von Anhängern des „alten Regimes“ aus, die in Kilikien – vor allem in Adana – an die 30.000 Armenier ermordeten, ohne dass die osmanischen Sicherheitsbehörden sofort eingeschritten wären.

Nach der Machtergreifung 1909 hatten sich die „Jungtürken“ sofort mit „pangermanistischen“ Kreisen in Berlin und Wien verbrüdert, was 1914 zum Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite der Mittelmächte führte. Obwohl der Kriegsminister Enver Pasa bei der fehlgeschlagenen türkischen Kaukasus-Offensive gegen Russland im Frühjahr 1915 von armenischen Einheiten der osmanischen Armee vor der Gefangennahme bewahrt wurde, beschloss das „Komitee für Einheit und Fortschritt“, den Weltkrieg als Vorwand für die „Endlösung“ der „armenischen Frage“ zu nehmen. Die „Endlösung“ wurde in den Ministerien in Konstantinopel generalstabsmäßig durchgeplant.

Zunächst wurden die armenischen Soldaten der türkischen Armeen entwaffnet, in Arbeitsbataillonen zusammengefasst und schließlich fast alle ermordet. Am 24./25. April 1915 wurde fast die gesamte Führungsschicht der Armenier in Konstantinopel, insgesamt etwa 2.350 „Opinion leaders“, unter ihnen auch etliche osmanische Parlamentsabgeordnete und Senatoren, festgenommen, die meisten wurden später ermordet. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Armenier aus den verschiedenen Vilayets (Gouvernements) auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt. Dabei gab es den ausdrücklichen Befehl, möglichst wenige lebendig dort ankommen zu lassen.

Der Widerstand einer kleinen Gruppe wurde weltweit bekannt und ging auch in die Literaturgeschichte ein: In seinem Erfolgs-Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ schilderte der Schriftsteller Franz Werfel, wie sich im August und September 1915 mehrere tausend Armenier am 1.700 Meter hohen Berg Musa Dagh in Kilikien verschanzten. Kurz bevor sie erschöpft hätten aufgeben müssen, wurden sie von einem französischen und einem britischen Kriegsschiff gerettet.

1919 machten Militärgerichte der kaiserlich-osmanischen Regierung den Führern der jungtürkischen Bewegung den Prozess wegen des Völkermords an den armenischen Bürgern. Die meisten führenden jungtürkischen Politiker entzogen sich aber einer Bestrafung durch Flucht nach Deutschland, wo etliche der Rachejustiz armenischer Attentäter zum Opfer fielen (so tötete ein armenischer Student am 15. März 1921 Talaat Pasa, einen der Hauptverantwortlichen, im Berliner Exil). Der Großwesir Damad Ferid Pasa gestand am 11. Juni 1919 die Verbrechen gegen die Armenier öffentlich ein. Spätere türkische Regierungen betrieben dagegen eine Leugnung des Völkermords an den Armeniern und stellten die Ermordungen als Folgen von Kriegshandlungen dar.

Der Ausrottungsfeldzug gegen die Armenier setzte sich im Chaos nach dem Kriegsende 1918 allerdings noch fort. Der Friedensvertrag von Sevres 1920 hatte die Schaffung eines großen armenischen Staates unter Einbeziehung der ostanatolischen Vilayets vorgesehen. Um dies zu verhindern, kam es neuerlich zu Massakern an Armeniern, vor allem in Adana (50.000 Opfer) und in Marasch (20.000 Opfer). Auch im vor 1914 russischen Gebiet versuchten türkische Truppen den Massenmord fortzusetzen, wobei von 175.000 Opfern gesprochen wird. Erst nach dem Eingreifen der Roten Armee konnte das Morden gestoppt werden.

Auch heute noch weist die Türkei den Vorwurf des Völkermordes zurück und argumentiert, es habe sich nicht um systematische Vernichtung, sondern um Opfer von Bürgerkriegswirren und Hungersnot gehandelt. Dennoch erschien 1985 der „Armenian genocide“ erstmals in einem offiziellen Papier der UNO, 1987 sprach auch das Europäische Parlament von „Völkermord“. Bei solchen Gelegenheiten übte die Türkei stets massiven diplomatischen Druck aus: Als Frankreich beispielsweise im Jänner 2001 den Genozid offiziell anerkannte, ergriff Ankara massive Repressalien und verfügte einen Boykott französischer Firmen.

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