Der Kandidat der sozialistischen Partei der Arbeiter (PT) baute seinen Umfragenvorsprung vor seinem Rivalen Geraldo Alckmin von der Partei der Sozialdemokratie (PSDB) auf 20 bis 24 Prozentpunkte aus. Die Opposition scheint das Handtuch schon geworfen zu haben.
Es ist äußerst schwer, bei Wahlen gegen einen Mythos anzutreten, räumte jetzt einer der wichtigsten Wahlhelfer Alckmins, der Gouverneur des Bundesstaates Minas Gerais, Aecio Neves, ein. Der frühere Gewerkschaftsboss und Diktaturgegner Lula habe einen Lebenslauf, der viele Brasilianer tief berühre. Deshalb sei Lula trotz der vielen Korruptionsanzeigen, die seit 2005 engste Präsidentenberater, Minister und PT-Führer wie im Dominospiel gestürzt hätten, in der Lage, die Präsidentenwahlen vom kommenden Sonntag zu gewinnen, sagte Neves.
Repräsentativ für viele, die Lula ihre Stimme geben werden, obwohl der Präsident sie enttäuscht hat, sind der in Deutschland bekannte Dominikanerpater, Menschenrechtler und Schriftsteller Frei Betto und der Ingenieur Valter Dos Santos. Lula schuldet noch viel von dem, was er im Wahlkampf 2002 versprochen hat, wie etwa die Agrarreform. Aber Brasilien und Lateinamerika sind mit ihm besser dran als ohne ihn, sagt Befreiungstheologe Frei Betto, der bis 2004 Sonderberater Lulas war, die Regierung aber enttäuscht verließ.
Der in Rio de Janeiro lebende Dos Santos meint derweil: Lula hat doch einiges für die Armen und für die Stabilität der Wirtschaft getan, und er hat wider Erwarten nichts Verrücktes gemacht, wie etwa der (Präsident Hugo) Chàvez in Venezuela. Warum soll ich dem wohl noch korrupteren Alckmin mein Vertrauen schenken? Lieber das kleinere und bekannte Übel. Seinen Denkzettel habe Lula in der ersten Runde am 1. Oktober bekommen, als er zwar mit 48,6 Prozent gewonnen, die zur Wiederwahl notwendige absolute Mehrheit aber überraschend verpasst habe.
Obwohl Lula immer noch gern die Eliten beschimpft, ging er in der Praxis mit Finanzmagnaten und Unternehmern auf Schmusekurs. Die Hochzinspolitik mit den höchsten Raten der Welt verärgert zwar noch einige Firmenbesitzer. Dass Lula aber längst kein Bürgerschreck mehr ist, bestätigt auch Olavo Setubal, Chef der zweitgrößten Bank des Landes, Banco Itau: Uns ist es egal, ob Lula oder Alckmin gewinnt.
Frei Betto wirft dem 60-jährigen Lula unterdessen vor, die Ideologie vergessen und sich Marketing und Neoliberalismus unterworfen zu haben. Die Regierung verfolgt eine fortschrittliche Sozialpolitik, aber auch eine ultraneoliberale Wirtschaftspolitik, die entwicklungshemmend ist und soziale Ungleichheiten verstärkt.
Wie der Dominikanerpater wollen laut Umfragen auch die meisten Armen in Brasilien für Lula stimmen. Wichtigster Trumpf ist das Sozialprogramm Bolsa Familia. Rund 50 Millionen Familien bekommen monatlich zwischen 70 und 95 Real (25 bis 35 Euro). Ein Großteil der Medien und Regierungskritiker sehen hier sicher nicht ganz zu Unrecht eine Art Stimmenkauf mit Almosen. Es handelt sich um Populismus, der als soziale Gerechtigkeit verkleidet ist, schrieb die Zeitung Folha. Und das Nachrichtenmagazin Istoe meint: Eine unschlagbare Stimmenmaschine. Noch dazu in einem Land mit dem beschämenden Kontingent von amtlich 14 Millionen Hungerleidenden.
Differenzierter sieht das der Soziologe und kritische Lula-Anhänger Emir Sader. Brasilien ist immer noch das ungleichste Land der Welt. Zum ersten Mal wird aber bei uns nun an die Armen gedacht. Meine Stimme für Lula ist eine soziale, keine politische Stimme.
Für Lula wird die Welt aber auch nach der eventuellen Wiederwahl alles andere als rosarot sein. Über seinem Haupt hängen gleich mehrere Damoklesschwerter. Kolumnist Clovis Rossi betonte am Sonntag in der einflussreichen Folha de Sao Paulo, erstmals in der Geschichte werde eine Präsidentenwahl sub judice stehen, weil Verfahren gegen Lula anhängig seien. Die Polizei untersucht Lulas Verwicklung im jüngsten Skandal um den Kauf eines Dossiers mit belastenden Informationen gegen die Opposition.
Aber selbst wenn er mit seiner Standardausrede ich wusste von nichts Erfolg haben sollte, muss Lula sich in Brasilia auf eine schwierige Zeit gefasst machen. Die Regierung räumt ein, dass die Ausgaben zurückgeschraubt werden müssen, damit die Zinsen gesenkt und die Wirtschaft angekurbelt werden kann. Mit zwei bis drei Prozent Wachstum rangiert Brasilien in Lateinamerika ganz unten.