AA

Bagdad ist nicht Washington

Im US-Wahlkampf ist der Irak eines der größten Streitthemen - aber der Großteil der Iraker selbst interessiert sich kaum dafür, wer aus dem Urnengang am Dienstag als Sieger hervorgeht.

Auch wenn der künftige Mann im Weißen Haus weiter die Lebensumstände der Bevölkerung beeinflussen wird: Fast 60 Prozent der Iraker ist es egal, ob der amtierende Präsident George W. Bush oder sein demokratischer Herausforderer John Kerry gewinnt, wie kürzlich eine Umfrage des Irakischen Zentrums für Forschung und Strategische Studien ergab.

Diese Haltung spiegelt sich auch in Hamid Chalils Friseursalon in Bagdad wider. Die US-Wahlen sind als Thema uninteressant. Lieber würden die Kunden über Spielshows im arabischen Satellitenfernsehen sprechen. Es mache doch ohnehin keinen Unterschied, ob Bush oder Kerry die Wahl gewinne, sagt der 50-jährige Friseur: „Es gibt einen großen Plan, mit dem der Mittlere Osten beherrscht werden soll“, sagt er, taucht den Rasierpinsel ins Wasser und schäumt das Gesicht eines Kunden ein. „Heute der Irak, morgen Syrien und dann vielleicht der Iran.“

In den großen Spiegeln des Salons sind die Kontrollposten vor der Grünen Zone zu sehen, dem streng gesicherten Gebiet mit dem Palast des ehemaligen Machthabers Saddam Hussein. Tausende Kilometer entfernt hat Bush seinem Herausforderer vorgeworfen, in der Irak-Frage zu zaudern und damit ein fatales Signal an die Aufständischen gesendet zu haben. Kerry wiederum hat Bush beschuldigt, mit falschen Begründungen in das Land einmarschiert zu sein.

Vielen Irakern an Ort und Stelle geht es um ganz andere Dinge: Da zählt nicht die große Politik, sondern der eigene Alltag – vor allem die Sicherheitslage. In ihren Augen hat sie sich immer weiter verschlechtert, seit vor 19 Monaten die Saddam-Statue auf dem Al-Farduz-Platz gestürzt wurde. „Es war ein freier Fall in einen unendlichen Abgrund“, sagt der 49-jährige Maki al Hamdani, der im Friseursalon sitzt. „Amerika hat unser Land zum Gefechtsplatz für seinen Krieg gegen den Terror gemacht.“

Sein Bekannter Jaber Karim sieht das etwas differenzierter: Die meisten Iraker seien dankbar dafür, dass die Amerikaner den Irak von Saddams Herrschaft befreit hätten. Viele hofften auf eine Verbesserung nach den für Jänner geplante Wahlen und dem schrittweisen Rückzug der US-geführten multinationalen Truppen. „Aber wir werden nicht ewig warten“, sagt der 51-jährige Eiscreme-Verkäufer. „Wir sind ein revolutionäres Volk – auch Frauen und Kinder werden sich erheben.“

Am anderen Ufer des Tigris, im Karrada-Viertel, steht Johnson Dancha in seinem gut gehenden Supermarkt und packt Lebensmittel ab. Er hat anderes zu tun, als sich den Kopf über die US-Wahl zu zerbrechen. Der 30-Jährige, der zu der kleinen Minderheit von Christen im Irak gehört, formuliert ein knappes Fazit: „Für uns Christen ist es jetzt doppelt so schlimm wie vorher.“ Die rund 700.000 Christen machen nur etwa drei Prozent der von Moslems dominierten Bevölkerung aus. Erst vor zwei Wochen wurden in der irakischen Hauptstadt fünf Kirchen bei Anschlägen zum Teil schwer beschädigt.

Aber nicht alle Einwohner von Bagdad stehen dem Wahlausgang gleichgültig gegenüber. Die vier schiitischen Moslems auf dem Freiheitsplatz in Karrada zum Beispiel würden sich Amtsinhaber Bush als Sieger des Urnengangs wünschen. „Bush hat den Irak von Saddam befreit“, sagt der 39-jährige Busfahrer Mohamed Hadi. Diese Ansicht verwundert nicht: Schließlich wurde die schiitische Mehrheit im Irak jahrelang von der weltlich-sunnitisch ausgerichteten Herrschaft Saddam Husseins unterdrückt.

Ein paar Straßen weiter, im bürgerlichen Stadtteil Mansur, spricht sich der 22-jährige Student Ahmed Hassan für den demokratischen Herausforderer aus: „Kerrys Vorschläge scheinen mir vernünftig. Es sieht so aus, als habe er einen Plan zur Beendigung der Besatzung.“

  • VIENNA.AT
  • Chronik
  • Bagdad ist nicht Washington
  • Kommentare
    Die Kommentarfunktion ist für diesen Artikel deaktiviert.