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Auschwitz-Prozess: KZ-Aufseher Oskar Gröning gesteht Mitschuld an Massenmord

Der "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, legte am Dienstag ein Geständnis ab.
Der "Buchhalter von Auschwitz", Oskar Gröning, legte am Dienstag ein Geständnis ab. ©EPA
Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen: 70 Jahre nach dem Ende des Holocaust hat der 93-jährige frühere SS-Mann und KZ-Aufseher vor Gericht seine Mitschuld am Massenmord im KZ Auschwitz eingeräumt. Oskar Gröning legte in Lüneberg ein umfangreiches Geständnis ab - und zeigte Reue. Den 62 Nebenklägern, darunter Shoa-Überlebende und Angehörige, wiederfährt damit späte Gerechtigkeit. Ihnen geht es nicht um Rache. Und auch nicht um das Strafmaß.

In einem der letzten großen Auschwitz-Prozesse hat der frühere SS-Mann Oskar Gröning gleich zu Beginn ein umfassendes Geständnis abgelegt. “Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch mitschuldig gemacht habe”, sagte der 93-jähriger Angeklagte am Dienstag vor dem Landgericht Lüneburg.

Oskar Gröning: “Ich bitte um Vergebung”

Er räumte ein, 1942 kurz nach seiner Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz von der Vergasung der Juden dort erfahren zu haben. “Ich bitte um Vergebung. Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden.”

Es geht um Beihilfe zum Mord – in 300 000 Fällen

Gröning muss sich wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen verantworten. Unter den rund 60 Nebenklägern sind auch zahlreiche Holocaust-Überlebende und ihre Angehörigen.

Gröning räumt alle Vorwürfe der Anklage ein

In seiner knapp einstündigen Aussage räumte der damalige Freiwillige der Waffen-SS alle Vorwürfe der Anklage ein. Demnach half er im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Geld aus dem von den Häftlingen zurückgelassenen Gepäck wegzuschaffen, um es an die SS weiterzuleiten. So habe er dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Töten der Nationalsozialisten unterstützt, wirft ihm die Anklage vor.

Gröning steht erst jetzt vor Gericht, weil die Justiz bis 2011 darauf bestand, dass KZ-Aufsehern eine direkte Beteiligung an den Morden nachgewiesen werden muss. Frühere Ermittlungen gegen den SS-Mann waren daher 1985 eingestellt worden. Erst nachdem die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ihre Beurteilung änderte, kamen die Ermittlungen gegen Gröning und einige andere KZ-Aufseher wieder in Gang.

KZ-Aufseher schildert grausame Vorgänge

Der 93-Jährige schilderte auch grausame Vorgänge, die sich vor seinen Augen abspielten. Auf der Suche nach entflohenen KZ-Insassen wurde er Zeuge einer Vergasung in einem dafür umgebauten Bauernhof und hörte die langsam verstummenden Schreie der Opfer.

Um Versetzung an die Front gebeten

Nachdem er sah, wie ein SS-Mann ein zurückgelassenes Baby gegen einen Lastwagen schlug und tötete, habe er Vorgesetzte eingeschaltet und um seine Versetzung an die Front gebeten, schilderte Gröning. Ihm sei aber gesagt worden, es gebe keine Möglichkeit, dort herauszukommen.

Anklage auf “Ungarn”-Aktion beschränkt

Der Angeklagte erschien mit einem Rollator im Gerichtssaal, gestützt von seinen Anwälten. Das Interesse ausländischer Medien an dem Prozess ist groß. Dolmetscher übersetzen das Verfahren auf Englisch, Hebräisch und Ungarisch. Aus rechtlichen Gründen beschränkt sich die Anklage auf die sogenannte “Ungarn-Aktion”, bei der im Sommer 1944 mindestens 300 000 von dort stammende Menschen ermordet wurden.

Bei Haftfähigkeit mindestens drei Jahre Gefängnis

Sollte Gröning verurteilt und für haftfähig erklärt werden, erwartet ihn eine Strafe von mindestens drei Jahren. Für den Prozess sind bis Ende Juli 27 Verhandlungstage angesetzt.

Oskar Gröning: der “Buchhalter von Auschwitz”

Oskar Gröning gilt als “Buchhalter von Auschwitz”. Weil er eine Banklehre absolviert hatte, wurde er 1942 in dem Konzentrationslager dafür eingeteilt, zurückgelassenes Geld und Wertgegenstände der neu angekommenen Häftlinge zu zählen und an die SS in Berlin weiterzuleiten. Im September 1944 wechselte er auf eigenen Wunsch in eine Einheit, die an der Front kämpfte.

oskar-archiv
oskar-archiv ©Ein Foto aus dem Archiv des Auschwitz-Birkenau-Museums zeigt Oskar Gröning in jungen Jahren in SS-Montur. Quelle: EPA/ Auschwitz-Birkenau state museum in Oswiecim (handout)

Nach dem Krieg kam Gröning zunächst in britische Gefangenschaft, dann lebte er mit Frau und Kindern ein bürgerliches Leben in der Lüneburger Heide. Erst Mitte der 80er Jahre öffnete er sich. In einer Dokumentation der britischen BBC berichtete er über das, was er in Auschwitz sah und tat. Er selbst beschrieb sich dabei als “Rädchen im Getriebe”.

Gegen den heute 93-Jährigen wurde bereits 1977 ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt stellte das Verfahren im März 1985 aber mangels Beweisen ein.

Auschwitz-Überlebende kritisieren deutsche Justiz

Auschwitz-Prozesse wie der gegen Oskar Gröning in Lüneburg hätten viel früher stattfinden müssen, kritisieren Überlebende des Nazi-Terrors. Die rechtlichen Möglichkeiten habe es durchaus gegeben.

Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz haben deutliche Kritik an der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland geübt. “Wir kritisieren die jahrzehntelange Untätigkeit der deutschen Justiz und ihr Desinteresse, Gerechtigkeit herzustellen”, sagte etwa Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee, einem Zusammenschluss von Auschwitz-Überlebenden und ihren Organisationen.

Demjanjuk-Prozess bringt juristische Neubewertung

Wegen Beihilfe hätte immer schon verhandelt werden können und müssen, nicht erst seit Demjanjuk, monierten die Nebenkläger-Anwälte Thomas Walther und Cornelius Nestler in Lüneburg. Die beiden vertreten 53 der insgesamt 62 Nebenkläger, darunter Überlebende und Angehörige von Opfern. Seit einem Urteil von 2011 gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk besteht die Justiz nicht mehr darauf, eine direkte Beteiligung an den Mordtaten nachzuweisen.

Aus dem Archiv:
Lange Suche, späte Sühne: Von Demanjuk bis Dr. Tod | Demjanjuk gab sich als Naziopfer aus

“Ohne Begründung wurden Verfahren eingestellt”, kritisierte Nestler. “So wurde das 1985 eingestellte Verfahren gegen Gröning noch 2005 mit der nicht zu vertretenden Begründung nicht wieder aufgenommen, dass SS-Wachmannschaften an der Rampe für die Ermordung Hunderttausender Juden überflüssig waren.”

Späte Sühne: “Es geht nicht um Rache”

“Es geht nicht um Rache”, betonte die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi aus Budapest. “Es geht weniger um die Strafe, es geht um das Urteil. Wichtig ist, dass es die Gesellschaft zur Kenntnis nimmt”, sagte sie. Ähnlich sah es auch die Überlebende Hedy Bohm aus Toronto: “Für Gerechtigkeit ist es nie zu spät – lieber spät als nie”, sagte sie. “Hier Zeugnis abzulegen, ist das Beste, was wir tun können.”

Warten auf das Urteil: Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi (r.) und ihre Großenkelin beim Prozess in Lüneberg. Foto: AP/ AFP
Warten auf das Urteil: Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi (r.) und ihre Großenkelin beim Prozess in Lüneberg. Foto: AP/ AFP ©Warten auf das Urteil: Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi (r.) und ihre Großenkelin beim Prozess in Lüneberg. Foto: AP/ AFP

“Das ist ein sehr wichtiger Moment in meinem Leben, dass ein SS-Mann in Deutschland vor Gericht steht”, sagte Bohm. “Das ist wichtig auch für kommende Generationen.” Gröninig sei Teil der Vernichtungsmaschinerie gewesen, darauf komme es in diesem historischen Moment an. “Ich hoffe auf Gerechtigkeit”, sagte Bohm.

“Der Schrecken wirkt fort in die nachfolgenden Generationen”

“Der Schrecken wirkt fort in die nachfolgenden Generationen”, sagte Judith Kalman, deren Halbschwester mit sechs Jahren in Auschwitz ermordet worden war. Der Prozess sei für sie eine Gelegenheit, an die Leiden ihrer Familie zu erinnern. “Ich verdanke mein Leben einem toten Kind”, sagt sie mit Blick auf die zweite Familie ihres Vaters.

“Wir fordern eine späte Gerechtigkeit”, hatte Heubner vorab erklärt. “70 Jahre nach dem Ende ihrer Leidenszeit in Auschwitz erwarten die Überlebenden diesen Prozess mit großem Interesse und Beklemmung”, sagte er. “Sie haben auf die Gelegenheit, Zeuge in einem deutschen Gerichtssaal zu sein, lange, lange gewartet.”(SJI)

Dossier: 70 Jahre Befreiung von Auschwitz

Die Hölle von Auschwitz: Zum Themen-Special über die Todesfabrik der Nazis.

spec
spec

Aus dem Archiv (zum Jahrestag 2015): “Auschwitz: Von Vorarlberger Opfern und Engeln”

In Gedenken an die Opfer der Shoa: Zur Homepage der Gedenkstätte Auschwitz Birkenau

(red-jim/dpa; Video: Reuters)

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