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Asphaltdschungel Argentinien - Fahren ohne Rücksicht

So nett vorschriftsmäßig wie in Mitteleuropa steuern Argentinier ihre Vehikel höchstens über den Verkehrsübungsplatz. Im richtigen Leben aber fahren sie ohne Rücksicht auf Verluste.

Im Asphaltdschungel herrscht eine leicht abgewandelte kommunistische Maxime: jeder nach seinen Bedürfnissen, jedem nach seinen Möglichkeiten.

Mit “rechts vor links” und anderen “Kleinigkeiten” der Straßenverkehrsordnung hält sich in Argentinien keiner auf. An den vielen Kreuzungen im schachbrettförmigen Straßenmuster der Hauptstadt Buenos Aires gelten andere Regeln, nicht aus der Fahrschule, nicht aus dem Fernsehen. Und die muss kennen, wer überleben will. 8.000 Menschen sterben pro Jahr im Straßenverkehr, etwa elf Mal so viel wie in Österreich.

“Die Argentinier müssen endlich ein größeres Rechtsbewusstsein entwickeln”, forderte Innenminister Florencio Radazzo kürzlich. Dem stellt sich nur eines in den Weg: “Hier ist man an schnelles Vorankommen gewöhnt”, meint Taxifahrer Pablo, während gerade wieder ein Auto bei Rot über die Kreuzung gebrettert ist, mit Handy am Ohr.

Vor allem gilt: Der Stärkere hat Vorrang. Und ist im Recht. Ein Bus des öffentlichen Nahverkehrs, ein sogenannter Colectivo, braust über die Kreuzung, hupt und gibt Lichtzeichen, aus dem Weg! In Argentinien heißt das: Rot für alles, was Räder und Beine hat – und niemand rümpft die Nase oder flucht dem rasenden, völlig überfüllten Bus hinterher. Die Colectivos haben hier ein ungeschriebenes Vorrecht vor allen anderen Verkehrsteilnehmern.

Selbst wenn der Busfahrer Schuld hat, übernehmen die Versicherungen der privaten Busunternehmen grundsätzlich nur Schäden ab 40.000 Peso, umgerechnet etwa 9.000 Euro. Weil alles darunter direkt von den Unternehmen beglichen werden soll, die aber in neun von zehn Fällen freigesprochen werden, ist der geschädigte Autofahrer fast immer der “Angeschmierte”.

Die Vormachtstellung der Busse hat zum Vorteil, dass man mit den Colectivos in der Stadt relativ schnell an sein Ziel kommt: Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern wird – wo immer möglich – überschritten, wenn die stinkenden Ungetüme nicht gerade im zähen Abendverkehr stecken bleiben.

Doch auch Busfahrer und -insassen leben gefährlich. In vergangener Zeit häufen sich Meldungen über Unfälle mit Schienenfahrzeugen. Im März waren an einem Bahnübergang etwa 200 Kilometer südlich von Buenos Aires die Schranken bereits heruntergelassen, und die roten Warnlampen blinkten wild, um das Herannahen eines Zuges zu signalisieren. Für den Fahrer eines Reisebusses war das trotzdem kein Grund stehenzubleiben. Er schlängelte sich mit seinem Doppeldecker an den Halbschranken vorbei. Der Zug donnerte in den Bus hinein. Die traurige Bilanz: 18 Tote und 50 Verletzte.

Auf den Autobahnen und mehrspurigen Rennstrecken der Innenstadt von Buenos Aires sträuben sich dem europäischen Besucher die Haare. Aber es gibt einen Unterschied: Wenn in Mitteleuropa jemand die Verkehrsregeln missachtet, kracht es meistens gleich. In der südamerikanischen Metropole aber ist der Regelverstoß die Norm, und die Autofahrer sind wachsam wie Schießhunde. Der Mindestabstand wird in Zentimetern gemessen, rasante Spurwechsel von links nach rechts sind an der Tagesordnung, wer im toten Winkel fährt, ist selbst Schuld.

Ungeduld und eine generelle Unlust zu warten, bis die Fußgängerampel auf Grün springt und treibt auch Fußgänger zu halsbrecherischem Verhalten. Dem vorbei sausenden Verkehr nähern sie sich so lange an, bis Fußspitzen und Reifen nur noch Zentimeter trennen, der Gehsteig liegt bereits mehrere Meter hinter ihnen. Gibt es keine Ampel, drängen die Passanten sich immer wieder unvermittelt hordenweise in den laufenden Verkehr und zwingen die Fahrer zum Anhalten, fast, als wollten sie in diesen kleinen Revolutionen des Alltags demonstrieren, dass auch sie in der chaotischen Metropole ihre Daseinsberechtigung haben.

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