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Armenier-Erklärung - Türkei: "Beziehung zu Wien dauerhaft beschädigt"

"Empörung" in Ankara über Armenier-Erklärung - Botschafter aus Wien abberufen.
"Empörung" in Ankara über Armenier-Erklärung - Botschafter aus Wien abberufen. ©EPA
Ankara hat gegen die Erklärung des Österreichischen Nationalrats zum Völkermord an den Armeniern 1915 bzw. gegen die Verwendung des Begriffs "Genozid" protestiert. Diese habe für "Empörung" gesorgt und werde die Beziehungen zwischen beiden Ländern "dauerhaft beschädigen". Der türkische Botschafter wurde aus Wien zurückberufen.

“Wir lehnen diese voreingenommene Haltung des österreichischen Parlaments ab”, hieß es des Weiteren in einer Stellungnahme des Außenministeriums in Ankara. So ein Versuch, “anderen einen Vortrag zu halten”, habe “in der heutigen Welt keinen Platz.” Es sei klar, “dass diese Erklärung permanente negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Türkei und Österreich haben wird”. Das Ministerium bestätigte, dass Botschafter Mehmet Hasan Gögüs aus Wien zu Konsultationen nach Ankara zurückgerufen worden sei. Bereits zuvor hatten mehrere türkische Verbände in Österreich gegen die Erklärung des Nationalrats protestiert.

Türkei bestreitet Genozid an Armeniern

In der Türkei ist der Tod von möglicherweise bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren ein heikles Thema. Schon türkische Kinder lernen: “Völkermord” gab es keinen – entgegen der Meinung zahlreicher Historiker. Das EU-Kandidatenland weigert sich bisher strikt, die Gräueltaten als Genozid anzuerkennen. Ankara spricht von einigen hunderttausend Toten infolge von Kämpfen und Hungersnöten während des Krieges. Nicht nur für Armenien handelt es sich bei den zwei Jahre dauernden Deportationen und Massakern hingegen um eine gezielte Vernichtungskampagne der Regierung des Osmanischen Reiches und damit um Völkermord.

Türkische Schulbücher schüren Hass gegen Armenier

Erst im Februar hatten türkische Journalisten, Künstler, Intellektuelle und Universitätsprofessoren in einer öffentlichen Erklärung
“unverblümten Hass und Feindseligkeit” gegen armenische Christen angeprangert. Stein des Anstoßes waren laut Kathpress Schulbücher, die ausgerechnet im Gedenkjahr an den Armenier-Genozid Stimmung gegen christliche Armenier machten.

Verfasst wurde der Text, der von der armenischen Tageszeitung “Agos” und der liberalen türkischen Zeitung “Taraf” veröffentlicht wurde, vom Historiker Taner Akcam. 95 Persönlichkeiten unterstützen den Protest mit ihrer Unterschrift, darunter Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und die international angesehene Soziologin Nilüfer Göle. Gefordert wird die sofortige Entfernung der betreffenden Schulbücher. Sie beleidigten das Andenken an “Hunderttausende Armenier der Türkei, die 1915 aus Kleinasien nach Syrien marschieren mussten und dabei fast alle umgekommen sind”.

Ankara wirft EU-Parlament religiösen Fanatismus vor

Auch das Europäische Parlament hatte die Türkei vergangene Woche mit einer Resolution erneut dazu aufgefordert, die Gräueltaten an den Armeniern als Völkermord anzuerkennen. Daraufhin warf die türkische Regierung den Abgeordneten “religiösen und kulturellen Fanatismus” vor.

Sie hätten “ein weiteres Mal angestrebt, die Geschichte bezüglich der Ereignisse von 1915 umzuschreiben”, kritisierte das Außenministerium in Ankara in ungewöhnlich scharfer Form. Das Parlament sei bekannt dafür, die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU behindern zu wollen.

Das Ministerium riet den Parlamentariern, sich mit der Verantwortung ihrer eigenen Länder für die Gräueltaten während des Ersten und Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen.

EU-Parlament erkennt Völkermord seit 1987 an

Das Europaparlament bezeichnet die Ereignisse schon seit 1987 offiziell als Völkermord. Mehr als 20 Einzelstaaten, darunter Belgien, Schweden, die Schweiz und Frankreich folgten, Österreich und Deutschland, die im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet waren, vom Massenmord wussten, aber nicht dagegen einschritten, waren bis jetzt nicht darunter. Die EU-Kommission dagegen vermeidet den Begriff Völkermord.

Erdogan: “Zum einem Ohr rein, zum anderen raus”

Welche Entscheidung das Europaparlament auch treffe, “sie wird zum einem Ohr rein- und zum anderen rausgehen”, hatte Erdogan nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu bereits gemeint, bevor das EU-Parlament die Resolution offiziell erklärte. Für die Türkei sei es niemals möglich, “eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen”.

Nationalrats-Parteien stehen trotz Kritik zur Armenier-Erklärung

Man habe niemanden – auch die Türkei – nicht kränken wollen, aber die Wahrheit müsse ausgesprochen werden, war der Tenor einer gemeinsamen Pressekonferenz der Klubobleute der sechs Parlamentsparteien am Mittwoch. Sie halten ihre Erklärung zum Volksmord an den Armeniern für richtig und wichtig – auch wenn die türkische Gemeinde in Österreich dagegen protestiere.

“Ebenso ist es die Pflicht der Türkei…”

In dem Text der Klubobleute Andreas Schieder (SPÖ), Reinhold Lopatka (ÖVP), Heinz-Christian Strache (FPÖ), Eva Glawischnig (Grüne), Waltraud Dietrich (Team Stronach) und Matthias Strolz (Neos) heißt es: “Aufgrund der historischen Verantwortung – die österreich-ungarische Monarchie war im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet – ist es unsere Pflicht, die schrecklichen Geschehnisse als Genozid anzuerkennen und zu verurteilen.” Und weiter: ” Ebenso ist es die Pflicht der Türkei, sich der ehrlichen Aufarbeitung dunkler und schmerzhafter Kapitel ihrer Vergangenheit zu stellen und die im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen an den Armeniern als Genozid anzuerkennen.”

Die türkischen Verbände in Österreich sprechen in Inseraten in mehreren Tageszeitungen von Kränkung und Enttäuschung – weil in der Sechs-Parteien-Erklärung die Verfolgung und Ermordung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern durch die osmanische Regierung vor 100 Jahren unumwunden als “Genozid” bezeichnet wird.

Schieder: “Die Dinge gehören auch beim Namen genannt”

“Es geht nicht darum, irgendjemanden zu kränken”, betonte SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder. In der “diplomatischen Welt” kreise man um Ausdrücke, aber “wenn es zu einem Völkermord gekommen ist, muss man es so bezeichnen”. Man sei von türkischer Seite vielfach kontaktiert worden. Natürlich führe man den Dialog – “aber die Dinge gehören auch beim Namen genannt, das wir durch ein Gespräch nicht verhinderbar sein”.

“Sehr sehr ernst” nehme man die Sensibilität der türkischen Seite, versicherte ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka. Die Erklärung sei keine Provokation gegen die Türkei oder die hier lebenden Türken. Es gelte jedoch, “etwas, was wie ein Genozid aussieht, als solcher zu bezeichnen ist”. Nach einigen Gesprächen mit dem türkischen Botschafter sei er schon “viel hoffnungsfroher”, meinte Lopatka noch am Mittwochnachmittag.

Schärfer äußerte sich FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache : Die Wahrheit könne “vielleicht für manche kränkend sein und Gefühle verletzten, wird dadurch aber nicht weniger wahr und muss ausgesprochen werden”. Er sprach von einem “kuriosen Geschichtsbild” und erinnerte daran, dass sich der türkische Präsident Erdogan auf das osmanische Reich berufe.

Armenien erklärt sich zur Aussöhnung mit Türkei bereit

Der armenische Präsident erklärte sich am Mittwoch zur Aussöhnung mit der Türkei bereit. Das Ziel sollten “normale Beziehungen” sein, sagte Serzh Sarksyan am Mittwoch vor ausländischen Journalisten. Der Friedensprozess solle “ohne Vorbedingungen” wieder aufgenommen werden. Armenien würde nicht darauf bestehen, dass die Türkei akzeptiere, sie habe damals einen Völkermord begangen. Zuvor hatte er vor der Gefahr neuer Völkermorde gewarnt. “Eine der größten Herausforderungen für die Menschheit sind wachsender Extremismus und Intoleranz im Nahen Osten”, sagte Sarksyan bei einem internationalen Forum am Mittwoch in der Hauptstadt Eriwan.

Am Freitag wird in Armenien offiziell der Opfer der Massenmorde gedacht. Die Türkei räumt ein, dass osmanische Truppen bei Massakern und Deportationen 1915 und 1916 armenische Christen töteten. 2009 hatten Armenien und die Türkei bereits einen Anlauf zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen genommen. Er blieb jedoch in den Parlamenten beider Länder stecken.

Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich

Anfang des 4. Jahrhunderts – Die Armenier unter König Trdat dem Großen nehmen vom heiligen Gregor dem Erleuchter den christlichen Glauben an. Die Armenisch Apostolische Kirche wird gegründet. Das damalige Armenien wird so zum ersten christlichen Staat der Welt.

Trotz eigener Reiche geraten die Armenier unter die Herrschaft regionaler Großmächte, es kommt zu Wanderbewegungen und Massendeportationen aus den angestammten Gebieten zwischen Ostanatolien und dem Südkaukasus, etwa in das südostanatolische Kilikien. Schließlich kommt es zu einer Trennung zwischen Ostarmenien unter persischer (später russischer) Herrschaft und Westarmenien unter osmanischer (türkischer) Herrschaft.

1878 – Im Berliner Vertrag nach dem russisch-osmanischen Krieg sichert Konstantinopel den Armeniern zu, sie nicht wegen ihres Glaubens zu diskriminieren, sie zu schützen und ihre Lebenssituation durch Reformen zu verbessern.
1890 – Die Armenische Revolutionäre Föderation wird gegründet. Die Partei setzt sich für die nationale Befreiung der Armenier ein.
1894-1896 – “Hamidian” – Nach Sultan Abdülhamid II. benannte, organisierte Massaker an den Armeniern nach einem Aufstand gegen hohe Steuern: bis zu 300.000 Tote.
1909 – Massaker an bis zu 30.000 Armeniern in Adana (Kilikien).
1914 – Das Osmanische Reich tritt an der Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg ein. Zum Jahreswechsel erleiden die Türken eine bittere Niederlage gegen die Russen in der Schlacht von Sarikamis. Die Armenier werden in der Folge der Kollaboration mit den Russen bezichtigt und die folgenden Deportationen so gerechtfertigt.
1915 – Der Völkermord beginnt:
– Am 24. April wird in Konstantinopel die Führungselite der Armenier festgenommen und später ermordet.
– Das Osmanische Reich gerät militärisch immer mehr in Bedrängnis. Bereits im Mai beschuldigen die Kriegsgegner Konstantinopel der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
– Mai-Juli – Deportationen aus Ostanatolien in Richtung mesopotamische Wüste. Am 21. Juni befiehlt der Innenminister Talat Pascha (später Großwesir, also Regierungschef) die Deportation aller Armenier aus den östlichen Provinzen.
– Herbst/Winter – Deportationen aus Westanatolien.
1916 – Im Sommer Massenmord an Armeniern in der Wüstenregion Deir al-Zor im heutigen Syrien.
1918 – Die Demokratische Republik Armenien wird ausgerufen, die später zur Sowjetunion kommt. Das Osmanische Reich kapituliert am 30. Oktober. Die Drahtzieher des Völkermordes fliehen nach Deutschland.
1919 – Unter den neuen Regierung werden auf britischen Druck hin die exilierten Ex-Machthaber in Abwesenheit zum Tod verurteilt.
1920 – Der nie ratifizierte Vertrag von Sevres sieht vor, die Verantwortlichen für den Völkermord vor ein internationalen Tribunal zu stellen.
1921 – Der Armenier Soghomon Tehlirian, dessen Familie dem Genozid zum Opfer fiel und selbst nur knapp überlebt hatte, erschießt Talat Pascha in Berlin.
1923 – Der Vertrag von Lausanne besiegelt die Annexion armenischer Gebiete durch die Türkei besiegelt; die Täter erhalten General-Amnestie.
1967 – Eröffnung der Genozid-Gedenkstätte in Eriwan.
1984 – Das Permanente Völkertribunal erkennt den Völkermord an den Armeniern an. Es folgen die UNO-Menschenrechtskommission (1985) und das Europaparlament (1987) weiters Belgien (1998), Frankreich (2001) und 20 weitere Einzelstaaten.
1991 – Nach einem Referendum erklärt sich Armenien von der Sowjetunion unabhängig.
2008 – Abdullah Gül besucht als erster türkischer Präsident das Nachbarland für ein Fußballspiel.
2009 – Die Türkei und Armenien nehmen in Zürich zwei Protokolle an, die auf die Normalisierung der Beziehungen abzielt. Sie wurden nicht umgesetzt. Serzh Sarksyan besucht als erster armenischer Präsident die Türkei für ein Fußballspiel. (SJI)

(APA/red-jim)

 

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