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Angst vor Freund als "Mitwisser"

VN-INTERVIEW: Gerichtspsychiater Reinhard Haller zum Fall Natascha Kampusch. Warum bat Natascha Freund des Peinigers nicht um Hilfe? Dazu Primar Haller.

VN: Der mutmaßliche Kidnapper hatte Natascha zu seinem Freund mitgenommen. Warum bat sie den Freund nicht gleich um Hilfe?

Haller: Natascha hat von allem Anfang an gesagt, dass es sich bei dem Ganzen nicht nur um ein Verhältnis zwischen Entführter und Monster gehandelt hat. Sie hat im Kidnapper ein Stück weit auch eine Vaterfigur, einen Freund oder gar Geliebten gesehen. Das weiß man nicht. Wolfgang Priklopil hatte neben seiner kriminellen offenbar auch gute Seiten. Natascha musste allerdings damit rechnen, dass der Freund ein Mitwisser sein könnte. Deshalb dürfte sie ihn nicht um Hilfe gebeten haben.

VN: War es also nichts als die nackte Angst, die Natascha trotz einiger Chancen davon abhielt, zu flüchten?

Haller:Ich stelle mir vor, dass sich im Zusammenleben über all die Jahre zwischen den beiden ein Vertrauensverhältnis entwickelt hat. Natascha war ihrem Peiniger für jede noch so kleine Vergünstigung dankbar und wollte das Vertrauen, das er in sie gesetzt hat, auf keinen Fall enttäuschen. Sie hat sich bei Priklopil, der sie meiner Einschätzung nach auch nicht töten wollte, zum Teil sogar geborgen gefühlt. Bei Begegnungen mit Außenstehenden war die junge Frau stets einer Mischung aus Angst und Dankbarkeit ausgesetzt.

VN: Wollte der mutmaßliche Entführer gar irgendwann mit Natascha eine „normale Partnerschaft“ führen?

Haller:: Ich gehe davon aus. Der Entführer wollte offenbar sein Opfer assimilieren und in die Gesellschaft einschleichen. Und er hatte das Ziel, dass die Gesellschaft irgendwann akzeptiert, dass er eine jüngere Partnerin an seiner Seite hat. Dieses Wagnis ist er beim Besuch des Freundes eingegangen. Dennoch hat die Natascha den gesunden Grundzug nach Ausbruch und Freiheit durchwegs in sich getragen.

VN: Wann wird Natascha wieder als normale Frau durchs Leben gehen können?

Haller: Wer solche Todesängste ausstehen musste, leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Trotz all den Schrecken scheint die Frau eine stabile Grundpersönlichkeit aufzuweisen. Die Traumatisierungen können also nicht so schlimm und durchgängig gewesen sein wie ursprünglich befürchtet. Sie hat gute Chancen, das Ganze zu überstehen. Narben bleiben immer. Narben sind aber keine Wunden. Welche Zeit dafür nötig sein wird, ist schwer vorauszusagen.

VN: Wie beurteilen Sie den Umgang der Medien mit dem Fall?

Haller: Es handelt sich um ein einmaliges Verbrechen. Gerade in einer verbrechensarmen Gesellschaft wie jener in Österreich wird ein solcher Fall naturgemäß mit einem enormen Interesse verfolgt. So gesehen finde ich die Berichterstattung als dem Ereignis angemessen.

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