Kachowka-Staudamm in russisch kontrolliertem Ukraine-Gebiet zerstört: Zehntausende in Gefahr

Die Ukraine warf Russland Staatsterrorismus vor. Der ukrainische Sonderbotschafter Anton Korynevych sagte vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wo eine Klage der Ukraine gegen Moskau läuft: "Russlands Taten sind die eines terroristischen Staates." Der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, stufte die Zerstörung des Damms als "größte menschengemachte Katastrophe seit Jahrzehnten" ein und forderte, Russland müsse seinen Sitz im UNO-Sicherheitsrat verlieren. Dort gehört es zu den fünf Vetomächten.
Russland beschuldigt Ukraine für Zerstörung des Kachowka-Staudamms
Der Kreml beschuldigte unterdessen die Ukraine der Zerstörung des wichtigen Staudamms. Schuldzuweisungen aus Kiew und dem Westen wies Moskau zurück. "Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (...) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Beweise für die Anschuldigungen legte er nicht vor. Präsident Wladimir Putin werde über alle Entwicklungen informiert, sagte Peskow.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte indes Moskau für die Sprengung des Kachowka-Staudamms verantwortlich und verglich sie mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. "Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten", sagte er bei einer Sicherheitskonferenz in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Dort war er am Dienstag per Video zugeschaltet. "Russland hat eine ökologische Massenvernichtungswaffe gezündet."
Selenskyj wies die vom Kreml verbreitete Behauptung zurück, die Ukraine habe den Damm selbst zerstört und damit eine verheerende Flutwelle verursacht. "Russland kontrolliert den Kachowka-Damm mit dem Wasserkraftwerk seit über einem Jahr", sagte er nach Angaben seines Präsidialamtes. "Und es ist physisch unmöglich ihn von außen, durch Beschuss zu zerstören." Der Staudamm sei von russischen Soldaten vermint worden. "Und sie haben ihn gesprengt."
80 Ortschaften in Gefahr
Durch die Sprengung des Staudamms gelangten nach Angaben der ukrainischen Führung mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen, hieß es am Dienstag am Rande einer von Selenskyj einberufenen Sitzung des nationalen Sicherheitsrats. Der Gouverneur des Verwaltungsgebiete Cherson, Olexander Prokudin, berichtete von acht ganz oder teilweise überfluteten Ortschaften. 16.000 Menschen seien in der Gefahrenzone.

Insgesamt sollen in dem Gebiet, in dem gekämpft wird, etwa 80 Ortschaften gefährdet sein. Luftaufnahmen aus der von der Ukraine kontrollierten Gebietshauptstadt Cherson zeigten, dass im flussnahen Stadtteil Korabel viele Häuser unter Wasser stehen.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt Russland vor, Tausende Zivilisten zu gefährden und schwere Umweltschäden in Kauf zu nehmen. "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert." EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich schockiert über einen "beispiellosen Angriff". Der britische Außenminister James Cleverly sprach von einem "Kriegsverbrechen".
Kiew sieht Explosion als Versuch, geplante ukrainische Offensive zu bremsen
Kiew sieht die Sprengung als Versuch, die geplante ukrainische Offensive gegen den Angriff auszubremsen. Zugleich versicherten die Streitkräfte, sich nicht von der Befreiung besetzter Gebiete abhalten zu lassen. Die Ukraine verfüge über "alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden".
Für das nordöstlich gelegene Atomkraftwerk Saporischschja besteht unterdessen laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms keine unmittelbare Gefahr. In dem von Russland besetzten AKW würden jedoch Maßnahmen zum Weiterbetrieb der Kühlsysteme getroffen, die normalerweise mit dem aufgestauten Wasser gespeist werden, sagte IAEA-Chef Rafael Grossi am Dienstag in Wien.
"IAEA-Experten am Atomkraftwerk Saporischschja beobachten die Situation genau", teilte Grossis Behörde auf Twitter mit. "Keine unmittelbare Gefahr am Kraftwerk." Auch ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax, das AKW - das ebenso wie der Kachowka-Staudamm am Fluss Dnipro liegt - sei nicht betroffen.
Angst um Atomkatastrophe
Wegen des Dammbruchs fällt laut Grossi der Wasserstand in einem Reservoir für die Kühlsysteme, die ein gefährliches Überhitzen der Reaktorkerne und des Atommülls in Saporischschja verhindern. Das Wasser aus dem Reservoir reiche noch für "einige Tage". Außerdem stehe ein Kühlbecken neben dem AKW-Gelände zur Verfügung, das weiteres Wasser für einige Monate enthalte.
"Es ist daher unerlässlich, dass dieses Kühlbecken intakt bleibt", warnte Grossi. "Es darf nichts geschehen, was seine Unversehrtheit potenziell gefährden könnte", appellierte er an Kiew und Moskau. Grossi kündigte an, das AKW nächste Woche erneut zu besuchen. Seit September sind eine Handvoll IAEA-Experten permanent als neutrale technische Beobachter in Saporischschja stationiert.
Auch der ukrainische Atomkonzern Enerhoatom sah den Betrieb des Atomkraftwerks durch die Zerstörung des Staudamms nicht gefährdet. "Wir schätzen die Lage nicht als kritisch ein, da das AKW Saporischschja über ein eigenes Kühlbecken verfügt, das nicht mit dem Kachowka-Stausee verbunden ist", sagte Enerhoatom-Leiter Petro Kotin in einem Fernsehinterview.
(APA/Red.)