Darum sind Waffenlieferungen an die Ukraine problematisch

Ein westlicher Militärexperte sieht Schwierigkeiten bei den Militärlieferungen an die Ukraine. In Polen sei zwar ein großes Verteillager aufgebaut worden, dessen Ausmaße an die Landung der Alliierten in der Normandie im Jahr 1944 erinnere, "aber sie kriegen es nicht so recht raus", sagte der Experte kürzlich im Gespräch mit Journalisten in Wien. Gerade bei schweren Waffen stelle sich nämlich die Frage, wie man sie ins Land bekomme ohne Russland einen Angriffsgrund zu liefern.
Militärexperte sieht Probleme bei westlichen Waffenlieferungen
Der Experte, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben wollte, veranschaulichte das Ausmaß mit einer Granatenlieferung. 2.000 Granaten würden für zehn Tage Kampfeinsatz reichen, doch wiege jede davon unverpackt 40 Kilogramm. Für den Transport brauche es Züge und entsprechenden "Luftschutz", der aber zumindest im Zentralraum der Ukraine gegeben sein dürfte. An den Eisenbahnlinien seien zudem zahlreiche Luftabwehrraketen positioniert, mit Marschflugkörpern zerstörte Brücken würden von den Ukrainern mitunter "über Nacht" wiederhergestellt.
Der Experte äußerte zudem die Vermutung, dass die schweren Waffen möglicherweise gar nicht bis in den Osten gebracht werden, sondern nur zum Fluss Dnjepr, der die Ukraine in der Mitte teilt. In einem Worst-Case-Szenario für die ukrainische Armee könnten die Invasoren nämlich versuchen, die Kräfte im Osten entlang des Dnjepr einzukesseln. Den Verteidigern in der Ostukraine wäre damit jegliche Rückzugsmöglichkeit genommen. "Das wäre dann der größte Kessel seit dem Zweiten Weltkrieg", so der Experte. In diesem Kessel wäre dann auch die schweren westlichen Waffen gefangen.
Tatsächlich stelle sich die Frage, auf welcher Linie die russische Armee versuchen wird, eine Verbindung zwischen ihren nördlichen und südlichen Positionen herzustellen. Ein Abschneiden auf kurzem Wege über Kramatorsk hätte militärisch nur wenig Sinn, aufwändiger wäre ein Vorgehen weiter westlich über Poltawa. Die "verlockende Alternative" dazu wäre, vom Süden entlang des Dnjepr in Richtung Saporischschja und Dnipro vorzustoßen - mit ungewissen Erfolgsaussichten. "Die Russen können jeden Punkt am Dnjepr erreichen. Die Frage ist, ob sie ihn auch halten können."
Experte: Kiew hat nur Kraft für einen Gegenangriff
Die defensive Haltung der ukrainischen Armee im Kampf gegen die Invasoren deutet laut dem Experten auf limitierte Offensivkräfte der Verteidiger hin. "Meine Einschätzung ist, dass sie noch Stoßkraft für einen Gegenangriff haben. Den müssten sie sich genau überlegen", sagte er. Gleichwohl sehe man in der Ukraine eine Armee, die "heftig verteidigt". Dies hänge auch damit zusammen, dass die ukrainische Verfassung die Preisgabe von Territorium als Landesverrat qualifiziere. Somit neigen die Kommandanten eher dazu, sich "festzuklammern" als etwa taktische Rückzüge durchzuführen, erläuterte der Experte.
Die russischen Angriffe an der Frontlinie dienten aktuell dazu, möglichst viele ukrainische Kräfte zu binden bzw. die Verteidiger auch zur Mobilisierung von Reserven zu bewegen. Die wesentliche Eroberung im Feldzug um den Donbass seien die Anhöhen um Isjum gewesen, von wo man das Steppengebiet überblicke. Die Verteidiger hätten sich geschickt an jenen Orten "eingegraben", an denen die Invasoren nicht vorbeikämen und die damit nur mit massivem Aufwand eingenommen werden können. Zudem sei es den Ukrainern gelungen, ihre Luftabwehr im Zentralraum intakt zu halten, was weiterhin Nachschublieferungen ermögliche.
Langes Warten auf russische Offensive überrascht Experten
Die militärischen Aktivitäten im Osten entsprechen dem, was man vor Kriegsausbruch erwartet habe. Die ursprüngliche Schlacht um Kiew habe Russland verloren, wobei es "Opfer des eigenen Narrativs geworden" sei. "Nun kommen wir zu einer plausiblen Option, die seit dem Jahr 2016 im Raum stand", sagte er mit Blick auf das russische Vorgehen im Donbass. Bemerkenswert sei aber, dass man nun schon seit über einer Woche auf den Beginn der russischen Offensive warte "und es passiert nichts".
Im Ausland sei nicht nur die Luftabwehr der Ukraine unterschätzt worden, sondern auch die Fähigkeit, das Maximum aus den vorhandenen Waffen herauszuholen. Wegen der Expertise im Bereich Elektrotechnik sei es gelungen, die Geräte "upzugraden". Als Beispiel nannte er die Neptun-Antischiffsraketen, die eigentlich eine Reichweite von 90 Kilometern haben. Sie seien praktisch "über Nacht" auf eine Reichweite von über 200 Kilometern verbessert worden, wodurch erst der Schlag gegen das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, den Raketenkreuzer "Moskwa", möglich geworden sei.
(APA/Red)