Großbritannien am Brexit-Schicksalswahltag

Doch die Briten haben an diesem Donnerstag in einem historischen Referendum darüber entschieden, wie ihr politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Schicksal aussehen wird. “Drinbleiben oder Rausgehen, aus der EU”, lautet die Frage, der sich mehr als 46 Millionen registrierte Wahlberechtigte zu stellen hatten – “Remain” oder “Leave”.
Ein regnerischer Wahltag in England
In der Hauptstadt London prägten am Wahltag Aktivisten des “Remain”-Lagers in ihren blauen T-Shirts das Bild. Simon Angelini, ein Brite mit italienischen Wurzeln, verteilt im Stadtteil Islington Aufkleber. “Schon gewählt?”, ruft er den Passanten zu. Wer “ja” sagt, kriegt einen erhobenen Daumen zu sehen, Nichtwähler werden gerügt.
Der Schicksalstag des Vereinigten Königreichs beginnt ziemlich regnerisch. Als am Donnerstag in London die Wahllokale öffnen, gießt es in Strömen. Eigentlich ein schlechtes Zeichen für die EU-Befürworter – ihre Anhänger sind nach Einschätzung von Experten schwerer zu mobilisieren als die Brexit-Befürworter.
Buchmacher sagen “pro EU” voraus
Doch die Hoffnung überwiegt, noch am Wahltag veröffentlichte Umfragen sehen eine Tendenz zum Verbleib, die Buchmacher in den Wettbüros haben sich längst pro EU festgelegt und die Quoten für einen solchen Ausgang am Donnerstag noch einmal verbessert. Und auch die Finanzmärkte scheinen an Großbritanniens Zukunft im Club der 28 zu glauben: Das britische Pfund startet mit einem klaren Plus in den Tag, erreichte im asiatischen Handel sogar ein Jahreshoch.
Insgesamt haben sich mehr als 46 Millionen Wähler registriert, wie viele tatsächlich wählen gegangen sind, ist erst später klar. Kommt es zum “Out”, würde das wohl die ganze Europäische Union in eine tiefe Krise stürzen. EU-Kritiker in anderen Mitgliedsländern verfolgen das Geschehen in Großbritannien mit Argusaugen.
Junge Briten gegen den Brexit
Die Briten lassen sich davon nur bedingt beeindrucken. Der 22-jährige Ian ist auf seinem Weg zum Pendlerzug noch schnell ins Wahllokal gehuscht. Der Werbefachmann wohnt in einem ehemaligen Arbeiterviertel im Südosten der Stadt mit vielen kleinen Reihenhäuschen aus Backstein. “Ich habe für den Verbleib in der EU gestimmt und ich glaube, dass wir mit einer knappen Mehrheit gewinnen werden”, sagt er.
Was ihn so optimistisch macht? “Die jungen Leute sind überwiegend für die EU-Mitgliedschaft.” Sie werden dieses Mal zur Wahl gehen, trotz Regen, da ist er sich sicher. “Es steht einfach zu viel auf dem Spiel”, sagt er. Allerdings: Zehntausende gerade junger Leute sind auf dem Weg nach Glastonbury, wo das berühmteste britische Rockfestival steigt. Die Veranstalter riefen schon im Vorfeld dazu auf: “Geht vorher noch wählen.”
Wunsch nach der “guten alten Zeit”
Ähnlich optimistisch wie Ian sind auch Robin und Rose Bambrough – allerdings genau für die andere Seite. Die beiden Rentner haben für einen Austritt aus der EU gestimmt. Vor allem wegen der Einwanderer. “Es sind einfach zu viele”, sagt der 75-jährige Robin Bambrough. Das Stadtviertel habe sich in den vergangenen Jahren immer mehr zum Nachteil verändert. “Schauen Sie doch nur, wie es hier aussieht”, sagt er und zeigt auf Plastiksackerl und anderen Müll, der über die Straße verteilt ist. Verantwortlich seien dafür vor allem Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien, glaubt er.
Erst recht wütend hat die beiden die Warnung von Premierminister Cameron und Finanzminister George Osborne gemacht, im Falle eines Brexits könnten die Pensionen gekürzt werden. “Da haben viele gesagt: jetzt erst recht”, meint die 74-jährige Rose Bambrough. Egal welche Seite am Ende die Oberhand behalten wird: Die britische Gesellschaft zeigt sich am Wahltag tief gespalten.
Großbritannien vor einem Wendepunkt
Dass sich das am Tag nach dem Referendum ändern wird, scheint zweifelhaft. Deshalb sind sich Politexperten einig: “Es gibt kein Weiter so!” Möglicherweise auch nicht für David Cameron, der das Referendum zum Kernpunkt seiner politischen Agenda gemacht hat – auch motiviert durch parteiinterne Querelen bei seinen konservativen Tories. Die britischen Buchmacher nehmen Wetten nicht nur auf den Ausgang des Referendums an – auch auf den Abgang des Premierministers.
(APA)