Internationale Pressestimmen zu den Massenprotesten in der Türkei
“de Volkskrant” (Niederlande):
“Erdogan verdankt seine Unterstützung vor allem dem spektakulären Aufschwung, den die Türkei seit seinem Amtsantritt im Jahr 2002 genommen hat. Das Wachstum der Mittelschicht hat jedoch noch einen anderen Effekt: Viele Türken beginnen sich mit der zunehmenden Islamisierung der Gesellschaft und der Bevormundung durch die Regierung Erdogan unwohl zu fühlen. Sie wollen selbst bestimmen, wie sie ihr Leben gestalten.(..) Es bleibt zu hoffen, dass der Ausbruch der Unzufriedenheit die (Regierungspartei) AKP zum Umdenken über die umstrittenen Pläne Erdogans bringt. Der strebt die Einführung eines präsidialen Systems – natürlich mit ihm selbst an der Spitze – an. Aber die politischen Unruhen zeigen gerade, dass statt einer straffen präsidialen Hand eher Diskussionen und Widerworte nötig sind.”
“La Repubblica” (Rom):
“Auch die Gewalt des politischen Islams gegen Unterdrückerregime ist jetzt kein Grund, deshalb Regierungschef Erdogan und seine Baulöwen auf Kosten der türkischen Demonstranten zu unterstützen. Denn es ist richtig, dass sich diese gegen Erdogans herablassende Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung und gegen seine Unterdrückung der Presse wenden. Man würde sich jedoch auch täuschen, wollte man diese Auseinandersetzungen als Kampf gegen das Auftreten der Religion deuten. Denn die größere Sichtbarkeit des Islams ist unausweichlich eine Folge der Verbreitung der Demokratie. Erdogan ist sicher kein Liberaler, die Türkei aber noch eine Demokratie. Man kann also nur hoffen, dass die Proteste das Land noch toleranter machen.”
“Neue Zürcher Zeitung:
“Sieht man sich am Taksim-Platz und anderswo um, fällt vor allem auf, wie wenig sich die Demonstranten über einen Kamm scheren lassen. Neben eingefleischten türkischen Nationalisten stehen Kurden, die Autonomie wollen. Die alten Kategorien von links und rechts gelten nicht mehr. Am ehesten ist es eine Bewegung, die sich mit den Jugendbewegungen in Europa vergleichen lässt. Die meisten lehnen den Obrigkeitsstaat ab, der die Türkei in vielerlei Hinsicht immer noch ist. Sie wollen eine sozial und politisch liberalere Gesellschaft. Insofern könnte die Bewegung den Anstoss für weitere Reformen geben. Gelingt ihr das, könnte die Türkei tatsächlich zum Vorbild für den Nahen Osten werden.”
“Figaro” (Paris):
“Er ist seit mehr als zehn Jahren an der Macht und mit jeder Wahl wurde seine Regierungsmehrheit stärker. Und so meint Recep Tayyip Erdogan, er könne sich alles erlauben. Die Unruhen vom (Istanbuler) Taksim-Platz, die sich zunächst gegen den Bau eines Einkaufszentrum richteten, haben das Abdriften dieses konservativen Muslims (…) in einen autoritären Führungsstil ans Licht gebracht. Es ist wahr, dass die Türkei unter seiner Regierung große Fortschritte gemacht hat. Das Land hat von der Globalisierung profitiert und erscheint heute als eine der großen Wirtschaftsnationen der kommenden Jahrzehnte. (…) Doch Erdogan der Modernisierer hat im Laufe der Zeit und mit der Arroganz einer ungeteilten Macht die autoritären Reflexe eines konservativen Islam wiedergefunden.”
“Standart” (Sofia):
“Die Protestierenden (in der Türkei) sind nicht von wirtschaftlichen Problemen motiviert. Das Motiv sind politische Forderungen und die demokratische Entwicklung.(…) Hier gibt es aber ein großes Problem – Europa hat keine moralische Autorität, sich einzumischen, weil (…) das Problem teilweise auch von Europa hervorgerufen wurde. Die Tatsache, dass (Ministerpräsident Recep Tayyip) Erdogan so selbstsicher ist, ist eine Folge der stockenden Verhandlungen mit der EU. Von 2005 bis 2006 hatte er einen ganz anderen politischen Stil.”
(APA)