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Arbeitszeit: Amerikaner leben, um zu arbeiten

Amerikaner reagieren mit Unverständis auf die europäische Arbeitszeiten-Diskussion. Schuld an der Arbeitsmisere sei der Sozialstaat.

Die Deutsche Gracia McGovern lebt seit 20 Jahren in den USA, aber an die Arbeitszeiten mit wenig Urlaub hat sie sich nie gewöhnt. „Die Leute hängen ja ihr ganzes Leben an den Nagel und denken nur an die Arbeit“, stöhnt McGovern, die an der Eliteuniversität MIT in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts) das Programm für die deutsche Abteilung koordiniert.

„Ich könnte eigentlich zwei Wochen Urlaub nehmen, aber in diesem Jahr komme ich nicht dazu“, sagt Carol Laham, Rechtsanwältin in Washington. „Vielleicht mache ich mal ein verlängertes Wochenende, aber sonst, wenn man so lange raus ist, ist das Aufholen nachher schlimmer, als einfach durchzuarbeiten.“

Nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO).in Genf arbeiten Amerikaner im Schnitt rund 1800 Stunden im Jahr, die Deutschen fast 500 Stunden weniger. Arbeitgeber so das US- Arbeitsministerium, sind nicht verpflichtet, nicht gearbeitete Zeit zu vergüten, weder Urlaub noch Krankheit. Andere Regelungen müssen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ausgehandelt werden. Die meisten zahlen im Durchschnitt den Lohn für zwei Wochen Urlaub im Jahr. Dazu gibt es oft ein paar erlaubte Krankheitstage. Wer länger krank ist, bekommt keinen Lohn.

Kein Wunder, dass Amerikaner angesichts solcher Verhältnisse die deutsche Diskussion um längere Arbeitszeiten mit Befremden betrachten. Auch Wissenschaftler. „Keiner denkt, dass die Forderung nach ein paar mehr Arbeitsstunden das Streben der Deutschen nach einem besseren Leben wirklich beeinträchtigt“, sagt Helmut Sonnenfeldt vom Forschungsinstitut Brookings in Washington. Dennoch: Zwar steige vielleicht die Produktivität, wenn jeder länger arbeite. „Ob die Leute aber gleich gut arbeiten, wenn sie über die Arbeitszeitverlängerung sauer sind, ist die Frage.“

Das deutsche Problem sei vielmehr der viel zu teure Wohlfahrtstaat. Die Sozialleistungen müssten abgebaut werden. Zudem sei dringend die Verbrauchernachfrage anzukurbeln, was mit einer Arbeitszeitverlängerung bestimmt nicht zu erreichen sei.

Das Rezept predigt auch Wirtschaftsprofessor Richard Cooper von der Harvard-Universität: Die Geschäftsstunden verlängern, um damit Verbrauchern mehr Gelegenheit zum Geldausgeben zu geben und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Keine komplizierten Tarifverträge, sondern individuelle Lösungen, rät Cooper, damit jeder Arbeitnehmer selbst aushandeln kann, wie viele Stunden er arbeiten will.

Was die Arbeitszeiten angeht, ist Cooper für amerikanische Verhältnisse geradezu radikal. „In der deutschen Wirtschaft liegt viel im Argen, aber zu kurze Arbeitszeiten gehört sicher nicht dazu“, sagt Cooper. Er rät seinen Landsleuten gar, sich an den Deutschen ein Beispiel zu nehmen. „Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen in der Freizeitfrage sehr viel vernünftiger sind als wir. Arbeitszeiten zu verlängern, ist verrückt.“

In den reichen westlichen Gesellschaften könne es sich jeder leisten, selbst zu entscheiden, ob er mehr Arbeit und mehr Geld oder weniger Arbeit und mehr Freizeit wolle. Natürlich dürfe es für Arbeitgeber nicht teurer sein, zwei Menschen statt einen für eine bestimmte Zahl von Arbeitsstunden einzustellen.

Cooper (70) selbst kommt auf rund 90 Stunden in der Woche. „Mein ganzes Leben ist wie Urlaub, Forschen und Lehren macht mir so viel Spaß, dass ich das gar nicht als Arbeit ansehe“, sagt er. Die amerikanische Arbeitsmentalität unterscheide sich halt erheblich von der deutschen. Amerikaner leben, um zu arbeiten, Europäer arbeiten, um zu leben, ist ein geflügeltes Wort jenseits des Atlantiks.

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