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Albtraum wird wahr

Das Albtraumszenario ist eingetreten: Auch in diesem Jahr steht der Sieger der US-Präsidentenwahl am Tag danach nicht fest.

George W. Bush, der sich vor vier Jahren erst nach erbittertem fünfwöchigem Rechtsstreit mit Al Gore um die Auszählungsergebnisse in Florida den Sieg sichern konnte, steuert nun auf einen wochenlangen Nachwahl-Clinch mit John Kerry zu. Das neue Florida heißt Ohio. In dem Mittelweststaat müssen bis zu 250.000 Wahlzettel nachträglich ausgewertet werden. Bush kann sich zwar beste Chancen ausrechnen, auch diesmal letztlich die Oberhand zu gewinnen. Seine Teilnahme an einer Siegesfeier in Washington sagte er aber vorsichtshalber ab.

Die ganze Nacht hat das republikanische Parteivolk im Ronald-Reagan-Gebäude im Zentrum Washingtons auf den Präsidenten gewartet. Die Vorfreude auf den Gast steigt von Stunde zu Stunde, nachdem Bush Florida und den gesamten alten Süden verteidigen kann, die wichtigen West-Staaten Colorado und Nevada gewinnt und auch seinen Vorsprung in Ohio hält. Doch am frühen Morgen sagt Bush, der die Wahlnacht im Kreis seiner Familie und Beratern im Weißen Haus verbracht hat, seine Teilnahme an der Party kurzerhand ab und geht ins Bett. Sich ohne Endergebnis aus Ohio bereits als Sieger bejubeln zu lassen, erscheint ihm wohl zu gewagt. Die Fans im Ronald Reagan Building müssen mit Andrew Card, dem Stabschef des Weißen Hauses, vorlieb nehmen, der verkündet: „Wir sind überzeugt, dass Präsident Bush die Wiederwahl gewonnen hat.“

Zu diesem Zeitpunkt stehen erst die Resultate aus 46 der 50 Bundesstaaten fest: Bush kann 254 Wahlmänner für sich verbuchen, Kerry 242. Für den Sieg werden 270 Elektoren gebraucht. Und dennoch ist die Siegesgewissheit des Präsidenten gut begründet. Denn in Ohio, wo 20 Wahlmänner zu vergeben sind, liegt er nach dem vorläufigem Abschluss der Auszählung immerhin um fast 140.000 Stimmen vorn. Es müsste also schon ein kleines Wunder geschehen, sollte Kerry seinen Rückstand bei der nachträglichen Auszählung bisher nicht berücksichtigter Stimmen noch aufholen können. Dabei handelt es sich zum einem um provisorische Wahlzettel; sie wurden an Wähler ausgegeben, die nicht in den Listen standen und deren Teilnahmeberechtigung nun im Nachhinein geprüft werden muss. Zum anderen sind es die Briefwahlstimmen von Militärs – die aber stimmen traditionell mehrheitlich republikanisch.

Kerry schätzt seine Chancen wohl realistisch ein. Eine der größten Enttäuschungen für den Herausforderer dürfte die relativ klare Niederlage in Florida sein, wo die Demokraten darauf brannten, die Schmach von 2000 zu tilgen. Der Senator verschanzt sich denn auch in seinem Haus im Bostoner Nobelviertel Beacon Hill und schickt seinen Vizekandidaten ins Rampenlicht. John Edwards zeigt am Copley Square im historischen Zentrum der Hafenstadt zwar sein breites Siegerlächeln und streckt den Daumen in die Höhe, als er ankündigt: „Wir halten unser Wort und kämpfen um jede Stimme.“ Doch der Funke springt nicht über, in der Menge herrscht Ernüchterung.

Offenbar haben sich Kerry und Edwards auf die Marschroute festgelegt, vorerst auf juristische Schritte zu verzichten – die eher milde Kampfansage des Vizekandidaten läuft lediglich auf die Forderung hinaus, das komplette Ergebnis in Ohio abzuwarten, bevor der nächste Präsident verkündet wird. Dies wird aber noch dauern: Denn für die provisorischen Wahlzettel gilt in Ohio eine Frist von elf Tagen, bevor mit ihrer Auswertung begonnen werden darf. Zu erwarten ist, dass bis dahin der Druck auf Kerry wächst, die Niederlage einzugestehen.

Denn Bush hat diesmal ein Argument in der Hand, das ihm vor vier Jahren im Nachwahl-Nervenkrieg noch fehlte: Von Gore wurde er in den landesweiten Stimmenanteilen geschlagen, Kerry dagegen konnte er über das ganze Land um mehr als 3,5 Millionen Stimmen abhängen – ein Erfolg, mit dem in dieser Klarheit nur die Wenigsten gerechnet hatten. Bush setzt nun auf wachsende Einsicht bei seinem Herausforderer, dass es für diesen nur noch darum geht, als guter oder schlechter Verlierer in die Geschichte einzugehen. Der Präsident wolle Kerry „mehr Zeit geben, über die Ergebnisse dieser Wahl nachzudenken“, begründet Stabschef Card lakonisch das Fehlen seines Chefs bei der Siegesfeier.

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