AA

Brüssel: Die EU bricht auf zur Sinnsuche

Zwei Tage und Nächte rasten die Autokonvois mit Blaulicht und Motorrad-Eskorte durch die Stadt. Dann herrschte Stille in Brüssel, als würde das Projekt Europa nach dem gescheiterten EU-Gipfel zu Grabe getragen.

Zum Gespräch mit den Bürgern hatten die Staats- und Regierungschefs wie üblich keine Zeit, bedauerte eine Hauptstadt-Zeitung: „Bei offiziellen Besuchen wohnen sie in Palästen. Aus Gründen der Sicherheit oder des Prestiges benutzen die meisten nie öffentliche Verkehrsmittel.“

Und hier, das haben auch einige Spitzenpolitiker erkannt, liegt ein Hauptproblem der zunehmenden Europa-Verdrossenheit vieler Bürger: Die Regierenden haben sich zu weit von den Regierten entfernt. „Wir müssen hören, was man uns sagt, es verstehen und die Konsequenzen daraus ziehen“, mahnte Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac nach dem zweifachen Fiasko des Gipfels zu Finanzen und Verfassung.

Selbst das Scheitern der Verhandlungen hatten die Gipfel-Teilnehmer letztlich mit ihrer Sorge um das Bürgerwohl begründet. Chirac wehrte sich gegen eine Reform der Agrarausgaben, weil dies Arbeitsplätze in Landwirtschaft und Lebensmittelbranche gefährde. Sein Hauptkontrahent, der britische Premierminister Tony Blair, wollte das Geld hingegen umleiten: Die Menschen bräuchten neue Jobs in Forschung und Technologie, argumentierte der Brite.

„Zwei Philosophien stießen aufeinander“, analysierte der Ratsvorsitzende und luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker. Mit anderen Worten: Die Europäische Union steht knapp fünf Jahrzehnte nach Unterzeichnung der Römischen Verträge am Scheideweg. Die Blockade beim Brüsseler Gipfel zeigt, dass die 25 EU-Staaten den Sinn ihrer Gemeinschaft neu suchen und festlegen muss.

Man kann die Krise positiv deuten, wie drei deutsche Sozialdemokraten aus dem Europa-Parlament es am Tag nach dem Debakel taten: „Das Scheitern des Gipfels ist keine Katastrophe, sondern eine Chance, nun einen neuen Dialog über die Zukunft Europas zu beginnen“, erklärten die Abgeordneten. Auch Juncker und Kommissionspräsident José Manuel Barroso sprachen vom „Plan D“ – wobei das „D“ für Dialog und Debatte, nicht aber für Denkpause stehen soll.

Blairs hartnäckiges Beharren auf seinen Reformforderungen scheint kaum in dieses bewährte Schema des europäischen Ausgleichs durch Diskussion und Verhandlung zu passen. Aus Brüsseler Sicht ist es fraglich, ob der Brite während seines EU-Vorsitzes im zweiten Halbjahr mit dieser Methode große Fortschritte erringen kann. Dabei zeigen selbst manche Franzosen, deren Präsident trotz erkennbarer Kompromissbereitschaft mit leeren Händen nach Paris heimkehrte, durchaus Sympathien für einen Reformkurs á la Blair.

So hat das Debakel von Brüssel eine Sinnsuche ausgelöst, die nicht ohne Risiken ist. „Es ist gefährlich, den Gegensatz der verschiedenen kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Modelle zu suchen“, warnte der Präsident des Europa-Parlaments, Josep Borrell. Und es sei illusorisch zu glauben, dass die EU in ihrer ganzen Vielfalt sich kurz- oder mittelfristig auf ein einheitliches Modell einigen könnte.

„Wir haben jetzt eine doppelte Krise – eine Krise im Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zur Europäischen Union und eine Krise im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten“, stellte der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen fest. Zumindest in der ersten Frage deutete die Zeitung „La Libre Belgique“ den Politikern schon eine Lösungsmöglichkeit an: Einfach mehr mit Bus und Bahn fahren, um den Sorgen der Bürger näher zu sein.

  • VIENNA.AT
  • Chronik
  • Brüssel: Die EU bricht auf zur Sinnsuche
  • Kommentare
    Kommentare
    Grund der Meldung
    • Werbung
    • Verstoß gegen Nutzungsbedingungen
    • Persönliche Daten veröffentlicht
    Noch 1000 Zeichen