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Türkei: Furcht vor einer "Kanzlerin" Merkel

Wohl noch nie haben türkische Politiker so angespannt auf das Ergebnis einer deutschen Bundestagswahl geblickt. Das Wahlergebnis entscheidet mit über den Gegenwind auf dem türkischen Weg in die EU.

„Das ist das erste Mal, dass eine Wahl in einem EU-Staat unseren Beitrittsprozess direkt gefährdet“, sagt ein besorgter türkischer Regierungsvertreter. Nur zwei Wochen nach der Bundestagswahl am Sonntag sollen am 3. Oktober die von der Türkei seit Jahrzehnten angestrebten Beitrittsgespräche mit der EU beginnen. Mit Kanzler Schröder wusste die Türkei eines der größten und einflussreichsten EU-Mitglieder auf ihrer Seite. Eine von Merkel geführte Bundesregierung sehen türkische Vertreter dagegen als Bedrohung. CDU/CSU wollen einen Beitritt verhindern und fordern stattdessen eine lockere „privilegierte Partnerschaft“. Aus Sicht des türkischen Außenministers Abdullah Gül ist das ein „unmoralisches“ Angebot.

Mit dem Erstarken der SPD in den jüngsten Umfragen steigen dagegen die Aussichten für das aus Sicht der Türkei vielleicht beste Szenario. „Die Türken sollten für eine große Koalition beten“, sagte ein europäischer Diplomat. „Das würde Deutschland in der EU-Debatte über die Türkei praktisch neutralisieren.“

Für die Türkei steht viel auf dem Spiel. Vor Jahren noch undenkbare Reformen des Staates – von der Justiz über Minderheitenrechte für die lange bekämpften Kurden bis hin zu Schritten für mehr Frauenrechte – hat die Regierung für das Ziel einer EU-Mitgliedschaft ihres armen muslimischen Landes auf den Weg gebracht. Sollte die Perspektive auf einen Beitritt schon zu Beginn der Verhandlungen zu sehr ins Wanken geraten, dann könnte das innenpolitisch gefährlich werden. Rot-Grün sieht die Annäherung der Türkei an die EU als strategisches Ziel, um die Grenze Europas zum Nahen Osten zu stabilisieren.

Politiker aus CDU und CSU haben bereits angekündigt, im Falle einer Regierungsübernahme die Beitrittsverhandlungen der Türkei in ihrem Sinne beeinflussen zu wollen. Brüsseler EU-Experten sehen darin vor allem populistische Wahlkampfparolen. Frühestens in fünf, wahrscheinlich aber erst in zehn Jahren werde erstmals zur Debatte stehen, ob die Türkei echte Chancen auf eine EU-Mitgliedschaft hat oder ob doch Merkels privilegierte Partnerschaft als Alternative in Frage kommt. Ein Beitritt vor 2015 gilt als ausgeschlossen. „Die Debatte hat mit der Realität auf Jahre nichts zu tun“, sagt John Palmer vom Brüsseler European Policy Centre.

Dennoch könnte ein Wahlsieg der Unionsparteien das Klima aus türkischer Sicht negativ beeinflussen. Frankreich hat bereits eine Volksbefragung über den Beitritt der Türkei angekündigt, der in westeuropäischen Staaten ohnehin auf steigenden Widerstand stößt. Nach einer im Juli von der EU-Kommission veröffentlichten Umfrage hatten sich 52 Prozent der befragten EU-Bürger gegen eine Aufnahme der Türkei ausgesprochen. Besonders groß war die Ablehnung in Österreich (80 Prozent), Deutschland (74 Prozent) und Frankreich (70 Prozent).

EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn hat die Türkei bereits gemahnt, die privilegierte Partnerschaft werde ein Thema der öffentlichen Debatte bleiben. Vermeiden könne sie am besten die Türkei selbst – mit entschiedenen Reformen zur Umsetzung europäischer Standards.

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