Die Angelegenheit wäre vielleicht nicht mehr als eine Fußnote in der Geschichte der europäisch-türkischen Beziehungen – doch das diplomatische Scharmützel kündigt kommende Konflikte an, die den ganzen Beitrittsprozess zu Fall bringen könnten.
Konkret geht es um den Rahmen für die bevorstehenden Gespräche über das Verhandlungskapitel Bildung – nur einer von mehr als 30 Abschnitten, über die in den nächsten Jahren geredet werden muss. Einige EU-Länder wollen die Bedingungen für die Verhandlungen über den Bildungssektor verschärfen; die Türkei lehnt dies ab, und auch die EU-Kommission ist skeptisch. In Ankara verfestigt sich der Eindruck, dass es einigen EU-Staaten in den Verhandlungen nur darum geht, die Türkei in einem diplomatischen Abnutzungskrieg dazu zu bringen, von sich aus aufzugeben.
Das Bildungskapitel gilt als einer der einfachsten Abschnitte der EU-Verhandlungen, weil Brüssel in diesem Bereich nur vergleichsweise wenige Kompetenzen hat. Frankreich und andere EU-Mitglieder wollen nun in dem Verhandlungskapitel aber auch die Minderheitenrechte und andere politische Kriterien erörtern, was Ankara ablehnt: Sonst müsste in den Bildungsverhandlungen über so dornige Themen wie muttersprachlichen Unterricht für die türkischen Kurden gesprochen werden. Diese Themen will die Türkei erst sehr viel später angehen. Auch die EU-Kommission ist nicht einverstanden damit, neue Bedingungen im Bildungskapitel einzuführen.
Der Grund für den Vorstoß liegt wohl nicht darin, dass Frankreich plötzlich sein Herz für kurdische Schüler in der Türkei entdeckt hat. Zwar gibt es durchaus Anlass, die Türken zu mehr Bewegung bei der Umsetzung politischer Kriterien zu drängen. Das Motiv hinter der französischen Vorschlag dürfte aber ein anderes sein. Es gebe EU-Länder, die bei jedem Punkt der Verhandlungen einen Hebel ansetzen wollen, sagt ein Diplomat. Neben Frankreich sollen auch Österreich, Deutschland, Zypern und weitere EU-Länder zu jener Gruppe gehören, die Nachforderungen im Bildungskapitel stellen. Noch gibt es innerhalb der EU vor allem wegen der Einsprüche der Kommission und Großbritanniens keinen Konsens darüber, aber schon jetzt haben die Forderungen das türkische Misstrauen gegenüber Brüssel noch weiter gestärkt.
Den Türkei-skeptischen Ländern in der EU gehe es beim Ruf nach mehr Menschen- und Minderheitenrechten nicht um Fortschritte auf diesen Gebieten, sondern darum, Druck auf die Türkei zu machen, um sie auf Abstand zu halten, kritisiert Semih Idiz, einer der prominentesten außenpolitischen Kommentatoren in Ankara. Der Ex-Diplomat Sinan Ülgen sprach in einem Beitrag für die International Herald Tribune von einer gefährlichen Frustration, die sich in der Türkei breitmache. Nach einer kürzlichen Umfragen ist die Unterstützung der Türken für das Ziel einer EU-Mitgliedschaft ihres Landes in einem Jahr von 72 auf 58 Prozent gesunken.
Die österreichische EU-Ratspräsidentschaft bemüht sich, den Frust in Ankara nicht noch schlimmer werden zu lassen. Die inhaltlichen Beitrittsgespräche mit der Türkei sollten noch unter Wiener Präsidentschaft bis Juni beginnen, ließ sich ein österreichischer Diplomat am Donnerstag in der türkischen Zeitung Zaman zitieren. Damit werden die türkischen Zweifel jedoch nicht aus der Welt zu schaffen sein. Außenexperte Idiz, ein Befürworter der türkischen EU-Bewerbung, forderte seine Landsleute in der Zeitung Milliyet bereits auf, darüber nachzudenken, welche Richtung eine Türkei einschlagen solle, die ihre EU-Perspektive verloren hat.
Auch das Thema Zypern bedroht die türkischen Beitrittsverhandlungen. Die EU verlangt von Ankara, bis Ende des Jahres ihre Häfen auch für Güter aus der griechischen Republik Zypern zu öffnen, die seit 2004 zur EU gehört – aber die Türkei will diese Forderung nur erfüllen, wenn im Gegenzug die wirtschaftliche Isolierung des türkischen Teils von Zypern aufgehoben wird. Dies wird jedoch von den griechischen Zyprioten abgelehnt. Niemand weiß, wie dieser Knoten gelöst werden kann. Einigen EU-Staaten wäre es recht, wenn der gesamte türkische Beitrittsprozess an dieser Frage scheitern würde, heißt es bei Diplomaten. Auf alle Fälle stehe im weiteren Verlauf des Jahres zwischen der EU und der Türkei wegen Zypern eine Krise mit Ansage bevor. Der Streit um das Bildungskapitel ist nur ein kleiner Vorgeschmack.