Selbst die Unterstützung für einen friedlichen Wehrdienstverweigerer könne nach dem geplanten neuen Antiterrorgesetz der Regierung mit über vier Jahren Haft bestraft werden, warnen Anhänger der EU-Reformen im Land. Noch ist das Gesetz nicht verabschiedet, doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich das politische Klima beim EU-Beitrittskandidaten Türkei erheblich verschärft hat. In den letzten Monaten beklagten EU-Politiker einen Reform-Stillstand in Ankara – inzwischen stehen Reform-Rückschritte auf der Tagesordnung. An eine Ausweitung der Bürgerrecht denkt derzeit niemand. Die Türkei ist dabei, die in den vergangenen Jahren erzielten Fortschritte bei der Demokratisierung über Bord zu werfen.
Ein Grund dafür ist die gewachsene Bedrohung durch den Terrorismus. Die kurdische PKK (Kurdische Arbeiterpartei) hat ihre Gewaltaktionen in den vergangenen Monaten deutlich ausgeweitet und wird dabei immer brutaler: Vor einigen Tagen war ein Schulbus das Ziel einer PKK-Bombe; elf Kinder wurden verletzt. Um die PKK aus der Türkei zu vertreiben, hat die Armee im Südosten des Landes eine Großoffensive gestartet. Diese Spannungen haben Auswirkungen auf die politische Stimmung. EU-Gegner sind in den Umfragen im Aufwind, einige Nationalisten fordern sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe.
Hinzu kommt, dass der Widerstand der EU-skeptischen Kräfte im türkischen Staatsapparat keineswegs erlahmt ist. Die Armee lehnt es weiterhin ab, sich von der Justiz oder anderen zivilen Institutionen kontrollieren zu lassen. Das Oberste Berufungsgericht bestätigte erst kürzlich die Verurteilung eines türkisch-armenischen Journalisten wegen einer angeblichen Beleidigung des Türkentums. Die vom Aussterben bedrohten christlichen Minderheiten warten vergeblich auf die seit Jahren versprochene Verbesserung ihrer Rechtslage.
Der Entwurf für das neue Antiterrorgesetz ist Ausdruck dieser Stimmungslage. Nach den Vorstellungen der Regierung sollen Verteidigerrechte eingeschränkt und der Schusswaffengebrauch durch die Sicherheitskräfte erleichtert werden. Propaganda für die PKK und deren Ziele können mit langjährigen Haftstrafen geahndet werden. So wurde schon in den neunziger Jahren die Meinungsfreiheit geknebelt.
Begünstigt wird der Abschied vom Reformkurs durch die anti-türkische Stimmung in der EU. Das Gerangel um den Beginn der Beitrittsverhandlungen im vergangenen Jahr hat türkische Politiker und viele Bürger in der Annahme bestärkt, dass die Europäer ihr Land nicht aufnehmen werden. Dass sich das EU-Mitglied Dänemark beharrlich weigert, den von Kopenhagen aus sendenden PKK-Satellitensender Roj-TV zu verbieten, verstärkt das Misstrauen.
Zur europapolitischen Enttäuschung tritt ein durch die anstehenden Wahlen ausgelöster Rechtsruck in der türkischen Innenpolitik. Im kommenden Jahr wird das Parlament neu gewählt. Mehr denn je achtet Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan darauf, dass seine Partei AKP, die sich als bürgerlich-konservative Kraft versteht, nicht rechts überholt wird. Insbesondere das Erstarken der europakritischen rechtsnationalistischen MHP, die nach den jüngsten Umfragen mit einer Rückkehr ins Parlament rechnen kann, macht dem Wahlstrategen Erdogan Sorgen. Zumindest vor den Wahlen wird sich an Erdogans Prioritäten nicht mehr viel ändern, weshalb es in Ankara bis auf weiteres keine großen reformpolitischen Durchbrüche geben dürfte. Anders als in den Reformjahren 2003 und 2004 fehlt in der türkischen Hauptstadt heute der politische Wille zu tief greifenden demokratischen Veränderungen.