Das KP-Zentralorgan “Renmin Ribao” (Volkszeitung) und andere amtliche Medien riefen zum entschiedenen Kampf gegen die Unabhängigkeitskräfte in Tibet auf. Nach einer neuen Bilanz der tibetischen Regionalregierung sind bei den Unruhen am vergangenen Freitag in Lhasa 19 Menschen ums Leben gekommen und mehr als 600 verletzt worden. Exiltibeter gehen von insgesamt rund 100 Toten in Lhasa und anderen Orten aus.
“Renmin Ribao” rief zur “Niederschlagung der Verschwörung und Sabotage der Unabhängigkeitskräfte in Tibet” auf. Das Parteiorgan sprach von Rädelsführern, die ahnungslose Bürger angestiftet, gezwungen oder sogar bezahlt hätten, sich an den Protesten zu beteiligen. Dem Dalai Lama und den Exiltibetern wurde vorgeworfen, die Unruhen von langer Hand geplant und organisiert zu haben – “mit der bösartigen Absicht, die Olympische Spiele zu untergraben und Tibet vom Vaterland abzuspalten.
Gleichzeitig hat die chinesische Führung vor einer Ausbreitung der Unruhen auf die von Muslimen bewohnte westliche Region Xinjiang (Sinkiang) gewarnt. “Egal, ob es um die Unabhängigkeit Tibets, Xinjiangs oder Taiwans geht, das Ziel ist immer gleich: Chaos zu stiften und sich vom Mutterland abzuspalten”, hieß es in einem Kommentar des Pekinger KP-Zentralorgans. In der Autonomen Region Xinjiang, in der sich Chinas Atomanlagen und Raketenabschussbasen befinden, leben Uiguren und andere muslimische Turkvölker. Dort erstarken seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten panislamische und irredentistische Strömungen, wie die kommunistischen Behörden offen zugeben.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, der deutsche Christdemokrat Hans-Gert Pöttering, drohte der Volksrepublik China unterdessen mit einem Boykott der Olympischen Spiele. “Peking muss sich entscheiden. Es sollte unverzüglich mit dem Dalai Lama verhandeln. Bleiben Signale der Verständigung aus, halte ich Boykottmaßnahmen für gerechtfertigt”, sagte Pöttering der Zeitung “Bild am Sonntag”. “Wir wollen erfolgreiche Spiele – aber nicht zum Preis des kulturellen Völkermords an den Tibetern, von dem der Dalai Lama spricht.” Am Mittwoch werde das Europaparlament über Tibet beraten.
Nach Berichten von Exiltibetern und Augenzeugen hat China in langen Militärkonvois große Truppenkontingente nach Tibet und in die Unruheregionen in den Nachbarprovinzen Sichuan, Gansu und Qinghai verlegt. Experten berichteten, dass auch reguläre Einheiten der Volksbefreiungsarmee darunter seien, obwohl Peking nur von der paramilitärischen Bewaffneten Polizei (Wujing) sprechen wollte. Militäreinheiten in Lhasa hätten ihre Nummernschilder verhängt und anderen Abzeichen verdeckt, die sie als reguläre Soldaten erkenntlich gemacht hätten, zitierten exiltibetische Quellen unabhängige Militärexperten.
Die amtlichen chinesischen Medien verbreiteten Details brutaler Angriffe von Tibetern auf Chinesen. So sei ein Wanderarbeiter mit dem Messer in die Leber gestochen worden und verblutet. Einer Frau, die verprügelt worden sei, hätten Angreifer ein Ohr abgeschnitten. Ein Arzt sei angegriffen worden, als er versucht habe, einen achtjährigen Buben zu retten, der von der Menge niedergetrampelt worden und erstickt sei. Bis Freitag hätten sich 183 Teilnehmer an den Unruhen in Lhasa der Polizei gestellt. Über populäre Internetportale fahndet die Polizei mit Fotos nach 21 Hauptverdächtigen.
Nach den Unruhen wird auch der Bewegungsspielraum kritischer Stimmen in China kleiner. In Peking wurden die tibetische Autorin Tsering Woeser und ihr chinesischer Ehemann Wang Lixiong praktisch unter Hausarrest gestellt worden. “Egal, was wir machen wollen – wir müssen erst um Genehmigung bitten”, sagte Wang dem Sender “Radio Free Asia”. Die 40-jährige Autorin, deren Werk in China weitgehend verboten ist, und ihr Mann machen regelmäßig Beiträge für den Sender.