Der Gedenkfeier des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus droht ein Eklat. Die Spitze des Zentralrats der Juden in Deutschland bleibt aus Protest gegen Missachtung und steigendem Judenhasse erstmals der Veranstaltung fern, wie Generalsekretär Stephan J. Kramer der Nachrichtenagentur AP am Dienstag sagte. Die Gedenkfeier ist im Bundestag für 11 Uhr angesetzt.
Führende Vertreter wie die amtierende Präsidentin Charlotte Knobloch und deren Vorgänger Ignatz Bubis und Paul Spiegel seien noch nie als Überlebende des Holocaust auf der Tribüne des Bundestags begrüsst worden, sagte Kramer. «Ich hätte Verständnis, wenn wir über Vertreter der zweiten oder dritten Generation reden würden. Es ist aber ein Unding, dass Überlebende wie Zaungäste behandelt werden.» Dieser Behandlung wolle man sich nicht mehr aussetzen.
Kramer sagte, nach dem bisherigen Bundestags-Protokoll sei es nicht vorgesehen, andere als die Vertreter der obersten Bundesbehörden zu begrüssen. Da aber bei der Begrüssung auch andere Teilnehmer wie etwa die Musiker benannt würden, könnten auch die Vertreter des Zentralrats eingeschlossen werden.
«Um sich greifende Feindschaft»
Der Zentralrat beklagt auch einen wachsenden Antisemitismus in Deutschland, wie Kramer dem «Tagesspiegel» sagte. Es gebe eine «fortschreitend um sich greifende Feindschaft gegen Juden, mehr und mehr auch in der Mitte der Gesellschaft», sagte er.
Es sei zwar zu loben, dass in ganz Deutschland in vielen Veranstaltungen an den 64. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz erinnert werde, sagte der Generalsekretär. «Doch wir mussten auch feststellen, dass während des Gaza-Krieges die Zahl der Hass-Mails an den Zentralrat um 40 Prozent auf 200 bis 300 pro Woche zugenommen hat.» In einem Zehntel der Mails seien explizite Morddrohungen gegen persönlich benannte Mitglieder des Zentralrats enthalten gewesen.
Die Hauptrede bei der Gedenkfeier wollte Bundespräsident Horst Köhler halten. Eröffnet wird die Feierstunde laut Plan mit einer Rede von Bundestagspräsident Norbert Lammert. Anschliessend wollten Abiturienten der Berliner Sophie-Scholl-Oberschule Auszüge aus dem Buch «Kinder über den Holocaust. Frühe Zeugnisse 1944-1948» vortragen.
Auch Merkel unter den Gästen
Zu der Gedenkstunde werden auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Peter Müller und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, erwartet. Zu Gast sind zudem junge Menschen aus Deutschland, Frankreich und Polen, die seit dem 21. Januar an der Jugendbegegnung des Bundestages zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus teilnehmen.
Der 27. Januar war 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog zum Tag des Gedenkens an die Holocaust-Opfer erklärt worden. Am 27. Januar 1945 war das Vernichtungslager Auschwitz durch alliierte Truppen befreit worden.
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Monika Griefahn äusserte sich verwundert über die Absage. Griefahn, die auch Vorstandsmitglied der Stiftung für das Holocaustmahnmal ist, verwies am Dienstag im rbb-Inforadio auf die Beteiligung jüdischer Persönlichkeiten und Organisationen an den Veranstaltungen zum Holocaust-Gedenktag in den vergangenen Jahren.