Noch rund zwei Wochen, dann muss sich ein mutmaßlicher “Jahrhundertverbrecher” im Landesgericht St. Pölten für seine Taten verantworten: Josef F. soll in Amstetten seine Tochter 24 Jahre lang gefangen gehalten und mit ihr sieben Kinder gezeugt haben.
Reinhard Haller betonte, sich nur aufgrund des teilweise veröffentlichten Gutachtens äußern bzw. von der Sprache des Verbrechens ableiten zu können.
APA: Wie wird sich Josef F. bei der Verhandlung verhalten?
Haller: Ich bin gespannt, wie er sich verhalten wird, ob er als reumütiger Sünder auftreten wird oder als jemand, der sich rechtfertigt und sagt, so schlimm war das nicht und die Dinge relativiert.
APA: Wie kann man Aussagen wie “Ich will büßen” und “Man soll aus mir lernen” bewerten?
Haller: Er hat natürlich ein Unrechtsbewusstsein und ein Bestrafungsbedürfnis, sonst wäre er wohl schon durch Suizid “davongelaufen”. Zu sagen, “Ihr sollt aus mir lernen” kann eine Art Wiedergutmachung sein. Solche Menschen wissen selbstverständlich, dass sie Unrecht tun – sie können sich aber nur wenig hinein fühlen in das, was sie anderen antun.
APA: Besteht die Gefahr von Selbstmord?
Haller: Am Anfang bin ich von einer hohen Selbstmordgefahr ausgegangen – da habe ich mich offensichtlich getäuscht. Aber ich glaube, dass die Suizidgefahr noch nicht ganz abgeklungen ist, weil im Verfahren werden die Illusionen, die er sich aufgebaut hat, zusammenbrechen.
APA: Welche Zukunftswünsche hat F.?
Haller: Ich glaube, dass er tatsächlich am liebsten als anerkanntes Oberhaupt der Familie weiterleben würde, wenn das Bestrafungsbedürfnis befriedigt ist. Ich denke, dass er glaubt, dass er ein mildes Urteil bekommt. Er kann ja nicht erkennen, was er am Schicksal der anderen getan hat. Aber er weiß, dass er gegen das Gesetz verstoßen hat. Er wird davon träumen, die Dinge danach wieder richten zu können, um dann als Oberhaupt weiterzuleben. Wenn er – je nach Urteil – erkennt, dass das nicht möglich ist, dann kann die Situation für ihn kritisch werden.
APA: F. hat auch erklärt, er liebe seine Frau – hat er denn wirklich geliebt?
Haller: Liebe ist nicht der richtige Ausdruck – wenn, dann ist es eine eigenwillige, egozentrische, narzisstische Liebe. Dass er seine Frau schätzt, weil sie eine gute Mutter und Hausfrau ist, ja – aber das darf man nicht mit Liebe verwechseln, weil gerade daran fehlt es ihm ja.
APA: Was steckt eigentlich dahinter? Wie kann man F. beschreiben?
Haller: Der archaische Kontrast zwischen heiler Welt und dem Bösen, zwischen Über- und Unterwelt ist bemerkenswert. Er muss technisch und handwerklich gut und intelligent sein. Gegenüber seinen Mitmenschen muss er ein starkes autoritäres Wesen entwickelt haben, eine Aura, die besagt: “Mich hinterfragt man nicht.” Er wollte fast gottesgleich über Menschen herrschen und das hat er auch getan. Ein Faktor, der hineinspielt, ist die Mutterbeziehung: Wer emotional und körperlich misshandelt wird, dem wird das Einfühlungsvermögen abgetötet, der spaltet die Welt in Gut und Böse.
APA: Spielt es eine Rolle, dass er vaterlos und als Einzelkind aufgewachsen ist?
Haller: Den Wunsch nach einem Vater hat er überkompensiert, indem er selbst zu einer übermächtigen, patriarchalischen Figur geworden ist. Als Einzelkind war er von klein auf gewohnt, Entscheidungen allein zu fällen ohne sich austauschen zu müssen. Er hat alles allein gemacht – und ist dann ja auch zum Einzeltäter geworden. Ich kann mir vorstellen, dass im zeitlichen Verlauf des Verbrechens auch die Eigendynamik eine Rolle gespielt hat. Es geht immer weiter, man bekommt eine Art Sicherheit: Man glaubt, unverletzlich zu sein. Macht ist ja auch, wenn man etwas weiß, was die ganze Menschheit nicht weiß.
APA: Wie ist Ihre persönliche Meinung zum Fall?
Haller: So einen Fall hat es in der Kriminalitätsgeschichte noch nicht gegeben. Es gibt natürlich viel größere Verbrechen, aber nicht von dieser unglaublichen Art. Dass er gerade in Österreich passiert ist, ist, glaube ich, Zufall. Man sollte die Chance nutzen, daraus viel zu lernen, z. B. auch mit dem Unwahrscheinlichen zu rechnen.