Sie wurden vom Internationalen Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in Den Haag als Völkermord eingestuft. Im Zentrum der Recherche von Civikov steht der Kronzeuge Drazen Erdemovic, dessen Aussagen für das UNO-Tribunal die Basis für viele Urteile bilden. Der Autor zerlegt und zerpflückt die Aussagen von Erdemovic in ihre Einzelteile, weist auf einige Widersprüchlichkeiten hin und bringt damit die Glaubwürdigkeit des Zeugen ins Wanken. Civikov geht sogar so weit, dass er dem Tribunal unterstellt, nach politischen Vorgaben zu arbeiten.
Erdemovic, ein bosnischer Kroate, wurde am 3. März 1996 in der Nähe von Novi Sad in Serbien festgenommen. Er gestand, Mitte Juli 1995 als Angehöriger einer Spezialeinheit der bosnisch-serbischen Armee (10. Sabotageeinheit) an der Erschießung von etwa 1.200 muslimischen Zivilisten aus Srebrenica beteiligt gewesen zu sein. Etwa einen Monat später wurde er von Belgrad an das Haager Tribunal ausgeliefert. Dort wiederholte er sein Geständnis. Und Erdemovic, dessen Geschichte übrigens auch die Grundlage für die internationalen Haftbefehle gegen Radovan Karadzic und Ratko Mladic geliefert hatte, nannte die Namen der Mittäter des Massenmordes auf der Branjevo-Farm beim Dorf Pilica.
Der 1971 im bosnischen Tuzla geborene Erdemovic wurde zum Kronzeugen der Anklage für die Massenmorde von Srebrenica. Er gestand, 70 bis 100 Zivilisten erschossen zu haben. Dafür erhielt er fünf Jahre Haft, wovon er dreieinhalb absitzen musste. Tatsächlich haben die Ermittler an Ort und Stelle 153 Leichen ausgegraben. 153 wehrlose Zivilisten zu erschießen, bleibe natürlich ein “ganz schweres Kriegsverbrechen”, doch diese Zahl sei “etwas zu mager, um mit ihr einen Völkermord an den bosnischen Muslimen zu untermauern”, meint Civikov. Für den Autor sind viele Aussagen von Erdemovic “widersprüchlich und inkonsistent”. Selbst die von Erdemovic geschilderten Massenerschießungen zweifelt er an: “Es ist einfach unmöglich, in kaum 5 Stunden 1.200 Menschen auf die vom Zeugen dargestellte Art und Weise zu erschießen”.
Seit 2000 lebt Erdemovic mit einer neuen Identität in einem westeuropäischen Land und tritt immer wieder vor dem Tribunal als Zeuge auf. “Erdemovic ist heute nach wie vor der einzige Zeuge, der als Täter den Beweis für den Mord an 1.200 muslimischen Zivilisten liefert, obgleich er als Angeklagter und später als Zeuge der Anklage in mehreren Strafverfahren beim Tribunal die Namen seiner Mittäter laut und deutlich nennt.” Aber bis auf den heutigen Tag sei keine dieser Personen als Zeuge einvernommen, als Täter angeklagt oder gar verhaftet worden, wundert sich Civikov.
Milorad Pelemis etwa, der Kommandant der 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee, der den Massenmord angeordnet haben soll, lebt heute unbehelligt in Belgrad. Oder der bosnische Kroate Marko Boskic, ebenfalls ein von Erdemovic erwähnter Mittäter, der im April 2004 in der Nähe von Boston in den USA wegen eines Verkehrsdelikts festgenommen wurde. Gegenüber dem FBI gestand Boskic seine Mittäterschaft am Massaker. Das UN-Tribunal habe jedoch unter dem Hinweis, dass man eine überlastete Institution sei und man sich auf die “großen Fische” konzentrieren müsse, kein Interesse an Boskic gezeigt, schreibt der bulgarische Literaturwissenschafter Civikov, der seit 1975 in Den Haag lebt, von wo aus er auch als Journalist tätig war. “Das Tribunal sperrt sich vehement dagegen, die Mittäter von Erdemovic zu vernehmen, um die offensichtliche Unglaubwürdigkeit seiner Geschichte zu überprüfen.”
Erdemovic kämpfte in den jugoslawischen Bürgerkriegen (1991-1995) für alle Konfliktparteien: Zunächst für die bosnisch-muslimische Armee, um dann in die Armee der bosnischen Kroaten und später in jene der bosnischen Serben überzutreten. Civikov sieht in Erdemovic einen Söldner. Denn die 10. Sabotageeinheit der bosnisch-serbischen Armee, zusammengesetzt aus Kroaten, Slowenen und Serben, sei nichts anderes als eine Söldnertruppe gewesen. Die Befehlsgewalten in dieser Einheit blieben völlig unklar. Auch hier redete sich der Kronzeuge laut Civikov oftmals in einen Strudel. Erdemovic selbst bekannte sich jedenfalls vor dem Haager Tribunal zu “pazifistischen Überzeugungen”.
“Wahrheitssuche und Wahrheitsfindung haben beim Jugoslawien-Tribunal nicht die höchste Priorität”, stellt der Autor in seinem Schlusswort fest. Wie sollte man sich sonst erklärten, dass die Geschichte von Erdemovic “mit all ihren offensichtlichen Widersprüchen und Ungereimtheiten als zuverlässige Basis für ein unglaublich mildes Urteil akzeptiert worden ist, um sie dann als Beweisstück in mehreren anderen Verfahren des Tribunals zu verwenden?” Civikov geht davon aus, dass in Den Haag “hinter der Kulisse einer unabhängigen internationalen Strafjustiz politische Interessen im Spiel” seien.
Dass das Buch, das mehr Fragen stellt als beantwortet, für hitzige Debatten sorgen wird, ist schon jetzt klar. Die Vereinigung “Mütter von Srebrenica” kündigte bereits vor dem Erscheinen des Buches eine Klage gegen Herausgeber und Autor an. Die Vereinigung wirft ihnen laut bosnischen Medienberichten “Leugnung des Genozids” in Srebrenica vor.
(S E R V I C E: Germinal Civikov: Srebrenica. Der Kronzeuge. Promedia, Wien 2009. ISBN 978-3-85371-292-4, 160 Seiten, 13,90 Euro)