Laut Jeanson sind nach wie vor wenige Hilfsorganisationen am Unglücksort und viele Opfer nach wie vor unter den Trümmern begraben. “Ich habe bisher in der gesamten Stadt nicht mehr als vier oder fünf Baufahrzeuge gesehen, die versuchen, Menschen aus den Trümmern zu bergen”, meinte Jeanson. Es fehle auch an dringend benötigten OP-Plätzen: “So wird es schlimmer, weil die Patienten, die vor drei Tagen stabil waren, jetzt in einem kritischen Zustand sind: Das heißt, Menschen sterben an vermeidbaren Infektionen.”
Die Panik vor weiteren Erdbeben versetze alle in Schrecken. “Ich sah jemanden mitten auf einer Kreuzung schlafen, aus Angst vor der Nähe zu Gebäuden im Falle eines Nachbebens”, berichtete die Medizinerin. Die Menschen haben noch immer enorme Furcht, in geschlossenen Gebäuden zu übernachten. Auch ich habe Angst, obwohl ich beim Hauptbeben nicht hier war.” Die Bedingungen für die Helfer seien dadurch äußerst schwierig: OP-Teams müssen ihr Eingriffe während Erderschütterungen fortsetzen.
“Kleine Feuer brennen auf der Straße, die Luft ist verraucht und erfüllt mit Gestank, und der Boden ist übersät mit Gebäuderesten, Beton, Kabeln und Geröll”, so die Ärztin. In der Bevölkerung sorge vor allem der Umgang mit den vielen Toten für Ärger: Am Sonntag auf dem Weg zurück von einer Lageerkundung außerhalb der Stadt, seien bei einem Zivilisten-Checkpoint Bürger auf mit Leichen beladene Lastwagen gesprungen. “Sie waren sehr wütend, weil der Fahrer die toten Körper in ihrer Stadt abladen wollte”, erzählte Jeanson. “Die Menschen waren verärgert, aber ich wäre es auch, wenn jemand Leichen in meiner Stadt abladen würde.”
Einen Eindruck der verheerenden Situation liefert auch ein Augenzeugenbericht von “World Vision”: Eine Mutter musste mit ihrer einjährigen Tochter tagelang unter freiem Himmel nächtigen und auf einem Schrottplatz auf Hilfe warten, schilderte die Organisation in einer Aussendung. Der Cousin liege nach wie vor tot unter den Trümmern des völlig zerstörten Hauses in Petionville, einem Vorort im Osten von Port-au-Prince.