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35 Millionen Spanier stimmen ab

Vor dem Madrider Avenida-de-los-Torreros-Gymnasium herrscht reger Betrieb. Es ist ein permanentes Kommen und Gehen an diesem sonnigen Vormittag. Der größte Andrang in den Stimmlokalen wird für den späten Nachmittag erwartet.

Vor allem ältere Damen in Pelzmänteln, Herren im Anzug und jüngere Eltern mit ihren herausgeputzten Kindern drängeln sich am Schuleingang vor den Wahllisten, um zu schauen, an welchem Wahltisch sie ihren Stimmzettel abgeben müssen.

Knapp 35 Millionen Spanier sind am heutigen Sonntag aufgerufen, als erste über die EU-Verfassung abzustimmen. 80 Prozent wollen dem europäischen Grundgesetz ihr „si“ geben. Ein gute Nachricht, schließlich soll die Abstimmung Vorbild für Referenden in zehn weiteren EU-Staaten sein. Es ist 11.30 Uhr. Viele kommen gerade vom Sonntagsgottesdienst in der nahe gelegenen Kirche. Andere sind auf dem Weg zur Stierkampfarena „Ventas“, die sich direkt neben dem Gymnasium befindet. Doch gerade hier im Stadtviertel Salamanca, im Zentrum Madrids, gehen Wahlbeobachter von einer hohen Enthaltung bei der Abstimmung über die EU-Verfassung aus. Der elegante Stadtteil, in dem vor allem die betuchtere Bevölkerung lebt, ist eine traditionelle Hochburg der konservativen Volkspartei (PP).

Man befürchtet, dass viele PP-Stammwähler den Urnen fern bleiben könnten, um dem sozialistischen Ministerpräsidenten Jose Luis Rodriguez Zapatero eine Lektion zu erteilen. Sie halten dem Sozialisten vor, bewusst als erste Regierung ein Referendum über die EU-Verfassung ausgerufen zu haben, um die europäische Blockadepolitik seines konservativen Vorgängers Jose Maria Aznar in Misskredit zu bringen.

„Wenn ich aber sehe, wie viele Menschen schon jetzt und gerade in diesem Stadtteil wählen, glaube ich, dass die Befürchtungen über eine hohe Wahlenthaltung völlig unsinnig waren“, meint Marta Criado Navamuel. Die 28-jährige Spanierin weiß, wovon sie spricht. Sie selbst hat schon bei Parlamentswahlen als Wahlhelferin gearbeitet. „Die meisten Leute gehen erst nach dem Mittagessen zwischen 16.00 und 18.00 Uhr wählen und für diese Uhrzeit sind schon relativ viele hier“, erklärt die Französisch-Lehrerin.

Auch wenn viele konservative Volkspolitiker die sozialistische Regierung eine große Enthaltung prophezeien, weil das Referendum zu überstürzt angesetzt worden sei und Inhalte nicht vermittelt werden konnten, glaubt Marta genau das Gegenteil: Die erste Hochrechnung gibt ihr recht. Obwohl es hinter den Pyrenäen vor allem den jüngeren Spaniern an Interesse für die EU-Verfassung zu mangeln scheint – 69 Prozent wollen laut der letzten Ipsos-Umfrage nicht von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen – lag die Wahlbeteiligung am frühen Nachmittag bereits bei 21 Prozent.

„Es hängt von jedem einzelnen ab. Viele Personen wissen wenig über den Inhalt der EU-Verfassung, weil sie den Text entweder nicht lesen wollten oder weil sie ihn nicht verstanden haben“, sagt die junge Spanierin. Es handele sich um ein juristisches Vertragswerk, dessen Sprache nicht leicht zu verstehen sei. Und so war es beispielsweise eine gute Idee, neben der Verteilung von Millionen Gratisausgaben der Verfassung, die wichtigsten Passagen in Fernsehspots von bekannten Persönlichkeiten vorlesen zu lassen. „Es gab genügend Zeit. Auch wenn wir drei Monate länger auf das Referendum vorbereitet worden wären, heißt das nicht unbedingt, dass auch mehr Leute über den genauen Inhalt Bescheid gewusst hätten“, sagt Marta.

Die junge Lehrerin grüßt einige Nachbarn, während sie versucht, ihren Namen in der Wahlliste zu finden. „Da hab ich’s. Ich muss am Tisch Nummer 70 wählen“. Beim Gang durch die Gänge ihres alten Gymnasiums erklärt sie zwar, Spanien könne mit der Durchführung des ersten Referendums dem Rest Europas zeigen, dass die eher proamerikanische Politik Aznars der Vergangenheit angehöre. Dennoch glaubt sie, die Spanier können zwischen parteipolitischen Reibereien und dem europäischen Gemeinschaftsprojekt gut unterscheiden.

„Ich habe nicht einmal über die Möglichkeit nachgedacht, der Abstimmung fern zu bleiben. Es handelt sich um ein Projekt, welches schon seit langem geplant ist. Jetzt darf es nicht in diesem Stadium gestoppt werden“, erklärt Marta. Die Angst vieler Landsleute, durch die EU-Verfassung würde die Identität des Volkes verloren gehen, versteht sie nicht: „Wir leben schon seit Jahren in einem geeinten Europa zusammen. Durch eine gemeinsame Verfassung werden doch weder wir Spanier, noch Franzosen oder Engländer ihre eigene Identität verlieren“, sagt sie.

Die EU-Verfassung zeichne allgemeine Werte des Zusammenlebens und der Demokratie auf, die auch in der spanischen Verfassung stehen. „Zu meinen, die EU-Verfassung zwinge uns eine Politik auf, die wir nicht wollen, oder legalisiere beispielsweise die Homo-Ehen in Spanien, ist einfach falsch. Viele Spanier bringen das durcheinander“, glaubt die 28-jährige Lehrerin.

Am Eingang stapeln sich auf einem Tisch die Wahlzettel mit Umschlägen. Auf allen drei Stimmzetteln steht die gleich Frage: „Stimmen Sie dem Vertrag zu, durch welchen eine Verfassung für Europa begründet wird?“ Marta greift einen Zettel, auf dem ein großes „Si“ unter der Frage steht und stellt sich in der Schlange vor der transparenten Plastikurne Nummer 70 an. Einige ältere Damen zeigen brav ihre Personalausweise vor und werfen den weißen Umschlag in die Urne.

Jetzt nimmt Wahltischpräsidentin Trinidad Menor auch Martas Personalausweisnummer auf. Ihre beiden Helferinnen notieren die Daten und nehmen ein Stück Papier vom Urnenschlitz, so dass Marta den Wahlumschlag hineinwerfen kann. Sie ist bereits die 87. Bürgerin, die heute an diesem Wahltisch gewählt hat. „Es läuft gut. Die Wahlbeteiligung ist recht hoch, bedenkt man, dass die meisten erst am späten Nachmittag kommen werden“, sagt Trinidad Menor. Ob die Beteiligung bis zur Schließung der 23.646 Wahllokale um 20 Uhr allerdings die erhoffte 50 Prozent-Grenze überschreitet, bleibt abzuwarten.

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