25 Jahre Tschernobyl: Ein Überlebender berichtet
Tritt man Anatoly Tkachuk gegenüber, so ist man zuerst einmal fassungslos. Am Kopf des 61-jährigen Businessman sprießt kaum ein graues Haar, dazu ein Händedruck “Marke Schraubstock”, dunkler Anzug, souveränes Auftreten, ein smarter Geschäftsmann eben. Dabei dürfte Tkachuk eigentlich gar nicht mehr am Leben sein. Dass er es doch ist, grenzt an ein Wunder. Denn im November 1987, als nur noch wenige Menschen an den Super-GAU von Tschernobyl dachten, war er der Katastrophe so nah wie niemand vor noch nach ihm. Zu viert erforschten sie das Innenleben des explodierten Reaktorblocks – nur Tkachuk überlebte. Über diesen Höllentrip hat er nun ein Buch geschrieben.
“Meiner Frau habe ich erst viel später davon erzählt. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich in dem Gebiet um Tschernobyl zu tun habe”, verrät Tkachuk, der ehemalige KGB-Sicherheitsoffizier, gut gelaunt in einem Wiener Hotel. Die Mission selbst war alles andere als lustig. “Natürlich hatte ich Todesangst. Ich war mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich sicher, dass ich sterben werde.” Mit einfachen Schutzanzügen ausgerüstet, wurden der damals 37-Jährige und seine drei Begleiter – ein ranghoher Militär, ein Atomphysiker und ein Bauingenieur – apokalyptisch hohen Strahlungsdosen ausgesetzt.
Im Inneren des Sarkophags von Tschernobyl
Doch Tkachuk wusste, worauf er sich einließ. Eineinhalb Jahre zuvor sah er viele der Liquidatoren, diese traurigen Helden, die unmittelbar nach der Katastrophe die Trümmer des Reaktorblocks mit bloßen Händen beseitigen mussten, qualvoll zugrunde gehen. Dennoch wagte er das kaum Vorstellbare. “Ich habe es natürlich freiwillig getan, schließlich war ich einer der Initiatoren dieser Aktion. Als Mann und als Soldat konnte ich einfach nicht Nein sagen.” Die Tochter war damals zehn Jahre alt, der Sohn kam gerade zur Welt, als sein Vater das Innere des Sarkophags von Tschernobyl betrat. In 30 Minuten musste die Mission erfüllt sein, die Baukonstruktion gecheckt, Proben gezogen, eben nach dem Rechten gesehen werden. Ein Scheitern war nicht vorgesehen.
Finsternis, Nebel, Dampf, ungeheuer viel Staub, geborstene Metallkonstruktionen – das waren die ersten Eindrücke jener vier Personen in Tschernobyl, die wohl an der aberwitzigsten Expedition aller Zeiten teilnahmen. “Ich bekam sofort heftige Kopfschmerzen, der Hals brannte und die Knie wurden steif. Es war extrem heiß und die Luft hat sich angefühlt, als wäre sie voller Blei.” Hie und da stießen sie auf Mauerritzen, durch die Tageslicht drang. “Die Konstruktion war wartungsbedürftig, wie wir befürchtet hatten. Die Wände drifteten langsam auseinander”, erinnert sich Tkachuk. Alles lief nach Plan.
Die Toten von Tschernobyl
Dann ging alles Schlag auf Schlag. Der Bauingenieur trat versehentlich auf den geschmolzenen Kernbrennstoff, der wie erkaltete Lava unter einer Staubschicht lauerte. In Panik riss er sich die Gasmaske vom Gesicht und war sofort tot. Der Atomphysiker berührte die strahlende Masse mit den Händen und starb zwei Tage später in einer Spezialklinik in Kiew. Der Militärkommandant, ein Freund Tkachuks, überlebte das Strahlenbombardement von Tschernobyl fünf Jahre. Wieso marschierte gerade der KGB-Mann aus dem Sarkophag, als wäre nichts gewesen? Vielleicht Glück, vielleicht gute Gesundheit, vielleicht die medizinische Notversorgung danach, meint Tkachuk. Aber: “Warum genau, weiß ich eigentlich auch nicht.”
Fast ein Vierteljahrhundert danach ist Anatoly Tkachuk mehr oder weniger pumperlgesund, sieht aus wie maximal 50, und präsentiert sein Buch “Ich war im Sarkophag von Tschernobyl”. Die Kernenergie sieht er übrigens nach wie vor nicht als Feind. Mehr Sicherheit sei es, was die Menschheit brauche. Und Information. “Aber den technischen Fortschritt darf man nicht aufhalten, Atomkraft hat seine Berechtigung”, so der ehemalige KGB-Sicherheitsoffizier.