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11. September

Der Schock ist gewichen, Ängste und Albträume bleiben. Jeder fünfte New Yorker steht nach wie vor unter dem Einfluss des Grauens

Der lähmende Schock ist überwunden. Doch ein Jahr nach dem 11. September leben Millionen Amerikaner noch immer in Angst, mit Albträumen und Depressionen. „Ich habe noch nie so viele unglückliche Menschen erlebt“, sagt die Psychologin Emily Stein in Manhattan, die Monate nach den Terroranschlägen mit Hilferufen überrannt wurde. Alle klagten über „diese dunkle Wolke“, die über ihnen liege und sie zu erdrücken drohe. Wie viele ihre Ängste auf Dauer behalten werden, können die Experten bisher schwer einschätzen.

Nach einer Umfrage im Auftrag der „New York Daily News“ standen 21 Prozent der Erwachsenen in der Millionenstadt auch Ende August noch unter dem Einfluss des Grauens. Etwa ein Drittel der Befragten glaubte, die Probleme inzwischen überwunden zu haben, und die übrigen 42 Prozent hatten nach eigenen Angaben nie Schaden genommen.

Eine Studie von Forschern des Research Triangle Institute in North Carolina ermittelte, dass Millionen US-Bürger allein auf das, was sie im Fernsehen sahen, mit „Post-Traumatic Stress Disorder“ (PTSD) reagierten. PTSD äußert sich in extremer Unruhe, überspannten Reaktionen, betäubten Emotionen und ständigen Albträumen. Hinzu kommen chronische Schlaflosigkeit, bei manchen auch Herzbeklemmungen, Magenbeschwerden und Panikattacken. Vom Vietnamkrieg wissen die Experten, dass jeder zweite, der unter PTSD leidet, auf Dauer Störungen zurück behält.

„Die Gefahr ist noch lange nicht vorbei“, mahnt auch Randall Marshall von der klinischen Psychiatrie der Columbia Universität in New York. Anfangs reiße sich jeder zusammen und habe nur das reine Überleben vor Augen. Traumatische Erlebnisse manifestierten sich oft erst nach Monaten oder Jahren. Am schlimmsten seien jene New Yorker betroffen, die den Fall der Zwillingstürme mit eigenen Augen sahen und die weiterhin in der Nähe von Ground Zero wohnen oder arbeiten.

Für alle anderen gelte die Faustregel: je mehr Stunden sie vor dem Fernseher verbrachten, desto größer ihr Risiko, die Bilder nicht mehr abschütteln zu können und von dem Übel eingeholt zu werden. Das Team vom Research Triangle Institute stellte fest, dass rund jeder achte New Yorker in den ersten Monaten nach dem 11. September unter klinischen Symptomen von PSTD litten. Landesweit hatte jeder 25. Amerikaner erhebliche psychische Probleme oder Depressionen im Zusammenhang mit den Terrortaten, wie die Forscher Anfang August im US-Ärztemagazin „JAMA“ berichteten.

Die New Yorker Schulbehörde kam durch eine eigene Untersuchung zu dem Schluss, dass etwa 200.000 ihrer 712.000 Schüler in den vierten bis zwölten Klassen psychologische Betreuung brauchen. Eine von ihnen ist die achtjährige Melanie Chu, die sich im Unterricht häufig unter ihrem Tisch versteckt und daheim im Schrank. Calla Perkins (8) misshandelte ihren Hund und die Katze. „Ich bin so böse. Ich weiß nicht, was ich machen soll“, sagte sie der Mutter. Andere Kinder fangen mit sieben oder mehr Jahren wieder an, ins Bett zu nässen.

Die 17-jährige Kate Brassel aus Manhattans Upper East Side verzichtete den Winter lang auf Theater- und Kinobesuche. Selbst das Shoppen brachte keinen Spaß. „Es erschien alles so sinnlos, so unwichtig.“ Ihre Freundin Rima Ibrahim aus Brooklyn findet: „Dieser Tag hat mich meiner Unbefangenheit beraubt.“ In einer E-Mail schrieb sie, „wir haben das Gefühl, jetzt immer auf der Hut sein zu müssen. Alles kann passieren und vor allem dann, wenn wir es am wenigsten erwarten.“

Der kleine Aidan Fontana (6), dessen Vater in dem Flammeninferno ums Leben gekommen war, errichtet die Zwillingstürme mehrmals täglich aus Bausteinen und bringt sie zum Einstürzen. Er selbst komme wie ein Supermann jedes Mal mit dem Leben davon, sagt er. Wäre er an jenem 11. September an der Seite seines Vaters gewesen, hätte er ihn sicher auch retten können, erzählte Aidan im Kindergarten.

Viele New Yorker versuchten, den psychischen Stress mit Zigaretten und Drinks abzubauen. So stieg die Zahl der Raucher, Alkohol- und Marihuana-Konsumenten in New York um ein Drittel, wie das „American Journal of Epidemiology“ berichtete. Positiv fiel auf, dass das schlimme Erlebnis die New Yorker weicher und mitfühlender stimmte. Eine Meinungsumfrage von „New York Times“ und CBS News fand einen „beachtenswerten Wandel“ in der Beziehung zwischen ethnischen Gruppen, „mehr Toleranz und Verständnis, weniger Vorurteile und Ungerechtigkeiten“.

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