Die Erweiterung der Europäischen Union am 1. Mai 2004 um zehn Mitglieder wurde zu recht als historisches Ereignis gefeiert. Für Wirtschaft und Alltagsleben der Menschen in den alten und neuen EU-Ländern hat der 1. Mai aber keine dramatischen Einschnitte gebracht, wie eine erste Zwischenbilanz 100 Tage nach der Erweiterung zeigt. Wirklich spürbar war ein kräftiger Anstieg vor allem der Lebensmittelpreise in den neuen Ländern. Die Angst vor einem Ansturm billiger Arbeitskräfte nach Westeuropa hat sich hingegen als völlig unbegründet erwiesen.
Dass es zu einer deutlichen Beschleunigung der Inflation gekommen ist, wird auch im jüngsten CEE-Kommentar der Bank Austria Creditanstalt (BA-CA) bestätigt: Während im Juni 2003 der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise im gewichteten Durchschnitt der acht neuen EU-Mitglieder in Mitteleuropa (CEE-8) nur 2 Prozent betragen hatte, ergibt sich laut Berechnungen der BA-CA-Analysten für Juni 2004 ein durchschnittlicher Inflationswert von 4,8 Prozent. Besonders stark stiegen die Preise in Estland, Ungarn und Polen. In Estland beschleunigte sich die Teuerung von 0,3 auf 4,5 Prozent, in Ungarn von 4,3 auf 7,5 Prozent und in Polen von 0,8 auf 4,4 Prozent.
Als Hauptursachen für die Inflationsbeschleunigung der letzten Monate gelten vor allem Steuer- und Gebührenerhöhungen im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt sowie ein kräftiger Anstieg der Lebensmittel- und Rohstoffpreise. Übertriebene Inflationssorgen halten die BA-CA-Experten aber nicht für gerechtfertigt, da es sich um einmalige Effekte handle, deren Wirkung tendenziell abnehme. Daher gehe man von einer Stabilisierung der Teuerung in den nächsten Monaten aus, wenn auch auf einem höheren Niveau als 2003.
Zur Verteuerung der Lebensmittel haben vor allem die Großeinkäufe deutscher Firmen in Polen, Tschechien und der Slowakei beigetragen. Weil die Milch- und Fleischproduzenten der neuen EU-Länder im Westen deutlich höhere Preise erzielen konnten und daher ihre Produktion großteils exportieren, kam es vereinzelt sogar zu Versorgungsengpässen, etwa in der Slowakei bei Butter. Experten gehen davon aus, dass sich erst nach einer Preissteigerung um 20 Prozent ein Marktgleichgewicht einstellen wird. Eine ähnliche Entwicklung wird auch bei Fleischprodukten erwartet.
Die polnischen Konsumenten bezahlen für Milch heute um 30 Prozent mehr als vor dem EU-Beitritt. Die Preise für Geflügel und Rindfleisch sind um mehr als ein Fünftel gestiegen, bei Schweinefleisch um rund 10 Prozent. Auf Grund von neuen Einfuhrzöllen und EU-Bestimmungen sind auch Reis und Bananen deutlich teurer geworden.
Ausgeblieben ist hingegen der von vielen neuen EU-Bürgern befürchtete Ansturm auf billige Immobilien im Osten. In Polen können EU-Bürger seit dem 1. Mai zwar unbeschränkt Gewerbeimmobilien kaufen, Häuser oder Wohnungen darf aber nur erwerben, wer sich dauerhaft in Polen niederlässt. In der Slowakei gibt es eine siebenjährige Übergangsfrist für den Grundstückskauf durch EU-Ausländer, die Entwicklung der Immobilienpreise bleibt bisher weit hinter den Erwartungen zurück. Bei Neubauwohnen außerhalb der Stadtkerne rechnen Experten sogar mit einem Preisrückgang um rund ein Drittel. Über einen dramatischen Preisverfall durch einen Nachfragerückgang klagen die Immobilienhändler am ungarischen Plattensee.
Arbeitskräfte-Ansturm blieb aus
Vor allem in Deutschland und Österreich war vor der EU-Osterweiterung die Angst vor einem Ansturm billiger Arbeitskräfte groß. Außer Großbritannien, Irland und Schweden haben auch alle anderen Länder der EU-15 ihre Arbeitsmärkte abgeschottet. Doch trotz der hohen Arbeitslosigkeit im Osten – so ist etwa jeder fünfte Pole ohne Job -, ist die befürchtete Flut von Einwanderern in England und Schweden bisher ausgeblieben. Nach britischen Schätzungen sind nur etwa 7.000 Polen seit dem EU-Beitritt in Großbritannien geblieben. Schweden verzeichnete insgesamt nur rund 2.600 Gastarbeiter aus den neuen EU-Ländern.
Laut der jüngsten Prognose der Bank Austria Creditanstalt (BA-CA) dürfte die Arbeitslosigkeit in den CEE-5-Ländern (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien) heuer auf durchschnittlich 13,7 Prozent (2003: 14,1 Prozent) zurückgehen. Für die baltischen Länder wird ein Rückgang von 11,3 auf 10,6 Prozent erwartet. Die höchsten Arbeitslosenraten haben weiterhin Polen (2004: 19,5 Prozent), die Slowakei (15,1 Prozent), Litauen (11,5 Prozent) und Tschechien (10 Prozent).
Das Wirtschaftswachstum in den CEE-5 wird sich laut BA-CA-Berechnungen heuer von 3,4 Prozent (2003) auf 4,2 Prozent beschleunigen und 2005 mit 3,9 Prozent noch immer hoch bleiben. In den baltischen Ländern wird ein Rückgang von 7,6 Prozent (2003) auf 6,7 Prozent und 2005 auf 6,2 Prozent erwartet. Die Steuereinnahmen haben sich in Polen, Ungarn und der Slowakei im 1. Halbjahr dank des hohen Wachstums besser entwickelt als erwartet. Die Budgetdefizite dürften daher heuer in den CEE-5 auf durchschnittlich 5,7 Prozent des BIP sinken (2003: 7,1 Prozent). Für 2005 wird ein weiterer Rückgang auf 4,9 Prozent erwartet.
Die Defizite im Außenhandel werden in den CEE-5 heuer voraussichtlich insgesamt von 2,9 auf 3,0 Prozent des BIP steigen, im kommenden Jahr sogar auf 3,2 Prozent. Für das Baltikum erwarten die BA-CA-Experten eine Verbesserung von 13,7 Prozent (2003) auf heuer 13,0 Prozent und 12,6 Prozent im Jahr 2005.