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„Am Strand sind wir wie Aliens“

Andrea Scherney ist eine Kämpfernatur. Zum dritten Mal hat die Ottakringerin heuer bei den Paralympics Gold geholt. Im bz-Interview lässt die Sportlerin ihre Karriere Revue passieren.

Als Andrea Scherney 1986 nach einem Motorradunfall der Unterschenkel amputiert werden musste, war das Letzte woran sie dachte, eine Karriere als Leistungssportlerin einzuschlagen. Über zwanzig Jahre später ist sie eine der erfolgreichsten österreichischen Athletinnen überhaupt: Dreifaches Gold bei den Paralympics, zehnfache Weltmeisterin in verschiedenen Leichtathletik-Disziplinen, Weltrekordhalterin im Weitsprung, fünffache Sportlerin des Jahres – das sind nur einige ihrer größten Erfolge. Im September hat sie in Peking bei den Paralympics unter schwierigen Umständen Gold im Weitsprung geholt und damit ihrer letzten Saison als Spitzensportlerin die Krone aufgesetzt.

bz: Was war ihr schönster sportlicher Erfolg?
Das waren die Paralympics in Athen, weil der Wettkampf sehr schön war. Aber am bedeutendsten war der Erfolg in Peking. Das war sehr unerwartet, auch wenn ich darauf gehofft habe. Ich war immer wieder verletzt, die Vorbereitung ist nicht gut gelaufen. Ich musste mich sehr überwinden und wollte fast abbrechen. Es war ein Kampf. Beim Wettbewerb selbst hat es geschüttet, das Finale war bereits für 9.30 Uhr angesetzt – ich dachte, da wird wohl niemand zusehen. Als ich dann ins Stadion gekommen bin, war es gesteckt voll: um diese Uhrzeit, bei diesem Wetter ein Stadion voll zu bekommen ist außerhalb Chinas unmöglich. Außerdem mussten wir, anstatt wie üblich einen Meter, drei Meter vor der Sandgrube abspringen. Damit ist das Chaos ausgebrochen. Trotzdem habe ich bei meinem ersten Sprung 4,82 Meter geschafft und damit gewonnen. Das hätte ich nie geglaubt.

bz: Wie gehen Sie mit dem Trubel um ihre Person um?
So genossen wie jetzt habe ich das noch nie. Sonst musste ich nach den Wettkämpfen wieder trainieren. Da das aber meine letzte Saison als Leistungssportlerin war, kann ich auch die Abendveranstaltungen genießen und feiern.

bz: Wie sehen ihre Zukunftspläne aus?
Ich möchte mich wieder mehr mit Freunden treffen, werde aber weiterhin viel am Sportplatz sein. Ich habe viele Anfragen als Trainerin abgelehnt. Wenn man einen Vollzeitberuf und Leistungssport kombinieren möchte, ist man am Limit. Das muss sich ändern. Deshalb treten wir als Behindertensportverband auch an die Arbeitgeber heran, um durch Sponsoring, Karenz oder Arbeitsstundenreduzierung eine Erleichterung und Unterstützung für die Sportler zu erreichen.

bz: Wie sah ihr Alltag aus?
Als ich verletzt war, hatte ich um sechs oder sieben in der Früh Therapie. Dann ging ich arbeiten. Vor Peking bin ich um vier Uhr gegangen, egal wie hoch der Papierstapel war. Dann habe ich bis acht Uhr trainiert. Manchmal standen danach Massagen am Programm. Nach so einem Tag kommt man todmüde nach Hause, da bleibt keine Zeit für Privatvergnügen. Mein Mann – der mich auch trainiert hat – und ich freuen uns, endlich unsere Hochzeitsreise nachzuholen. Wir waren gemeinsam immer nur auf Trainingslager – mit getrennten Betten.

bz: Was werden sie beruflich machen?
Ich bin Sportdirektorin des Österreichischen Behindertensportverbands. Jetzt betreue ich auch Klienten, die Behindertensportler werden wollen. Diese Menschen brauchen Begleitung. Die Hürde, als Betroffener in einen Behindertensportverein zu gehen, ist extrem groß.

bz: Warum?
Viele glauben, dass die Ansprüche zu hoch sind. Eine Berichterstattung wie bei den Paralympics kann auch abschrecken. Viele sehen nicht, dass es auch viele andere Arten und Niveaus von Behindertensport gibt.

bz: Hätten Sie sich vorstellen können, etwas anderes als Sportlerin zu werden?
Ich habe Sport studiert und war daher immer schon an Sport interessiert, aber nie in Vereinen involviert. Gerade als junger Mensch wollte ich mit Vereinen und den Strukturen nichts zu tun haben. Aber in Österreich kommt man daran nicht vorbei. Sport ist nun mal in Vereinen organisiert, und nach meinen Unfall bin ich da rein gekommen. Mittlerweile gibt es viele Quereinsteiger, die nach einem Unfall in den Behindertensport kommen.

bz: Wie schätzen Sie die Zukunft des Schifahrers Matthias Lanzinger ein?
Die Medien gehen fix davon aus, dass er im Behindertensport aktiv wird. Aber er muss zuerst selbst austesten, ob ihm das gefällt. Ein solcher Spitzensportler müsste gleich auf einem sehr hohen Niveau sein. Er wäre nicht der lockere Behindertensportler, der das probieren möchte – von ihm würden alle erwarten, dass er gewinnt. Mit diesem Druck muss man umgehen können.

bz: Sie haben Sport studiert, als sie ihr Bein verloren haben.
Ich habe Sportwissenschaft in Kombination mit Prävention/Rekreation studiert. Ich dachte mir, warum sollte ich aufhören? Ich durchlaufe genau das, was ich immer lerne: die Akutphase, die Behinderungsbewältigung, den Aufbau und den Rehabilitations- und Behindertensport. Authentischer kann man ja nicht sein. Im praktischen Teil hat mir nur noch der Hürdenlauf gefehlt – dass es daran scheitert, wollte ich nicht akzeptieren. Ich war dann die erste behinderte Studentin in Wien, die ein Sportwissenschaftsstudium abgeschlossen hat.

bz: Wären Sie ohne ihren Unfall auch zum Leitungssport gekommen?
Nein, ich hätte den Ehrgeiz, die Konsequenz und den Drill nicht gewollt, den Leistungssportler haben. Ich war sehr freiheitsliebend. Und dazwischen wollte ich Menschen mit Sport und Bewegung helfen. Aber als ich dann mit dem Behinderten-Sport angefangen habe, konnte ich so viel ausprobieren. Keiner hat gesagt, was ich tun soll oder muss. Rückblickend gesehen, war ich in den letzten zehn Jahren Leistungssportlerin, die Jahre zuvor war ich eigentlich Versuchssportlerin.

bz: Wie empfinden sie es, dass der ORF fast alle Bewerbe der Olympischen Spiele live zeigt, die Paralympics aber nicht?
Man kann das nur ausräumen, indem sich viele Leute an den ORF wenden. Wir hören immer, dass es niemanden interessiert.

bz: Wie sehen Sie das Level der Professionalität im Behindertensport?
Das Hauptproblem ist, dass den Sportlern die Zeit für das Training fehlt. Natürlich spielt auch Geld eine Rolle. Wenn man genug Geld hat und nicht mehr arbeiten gehen muss, kann man auch mehr trainieren – das ist für uns aber eine Utopie. Man muss andere Modelle ins Auge fassen, wie die Heeressportschule. Die Sportler gehen nicht alle zum Bundesheer, weil sie so gerne dorthin wollen, sondern weil es die einzige Möglichkeit in Österreich ist, Sport professionell zu betreiben.

bz: Werden Sie auf der Straße erkannt?
Das ist schön in Ottakring. Als ich von Peking heimkam, sind Geschenke vor unserer Tür gestanden. Der ganze Block hat meinen Erfolg mitbekommen.

bz: Haben Sie nicht auch einmal in Hietzing gewohnt?
Ja, ich habe sogar im Einkaufszentrum einen Stern beim „Walk of Fame“ bekommen. Dort bin ich neben Gustav Klimt, Helmut Pechlarner und Peter Weck. Da muss ich immer lachen, denn da denken sich die Leute sicher „Wer ist Andrea Scherney?“

bz: Haben sie oft das Gefühl aufgrund ihrer Behinderung angestarrt zu werden?
Blicke gibt es immer. Wenn ich am Sportplatz bin, bin ich geschützt und in meinem Element, dann ist mir das völlig egal. Wenn wir am Strand sind, ist das anders. Mein Mann sitzt im Rollstuhl und dann sind wir sowieso zwei Aliens.

bz: Lernt man mit der Zeit damit besser umzugehen?
Meinen Mann stört das nicht mehr so sehr. Aber das kommt vermutlich daher, weil er ständig im Rollstuhl sitzt. Ich wechsle ständig von behindert-sein auf nicht-behindert-sein. Wenn ich angezogen bin, merkt niemand meine Behinderung. Man sieht es nur, wenn ich mich ausziehe – und das sind wenige Gelegenheiten. Wenn man selbst nicht gut drauf ist – und das gibt es immer wieder – dann tut das auch weh, was um dich herum passiert.

Interview: Monika Kickenweiz

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