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Wohnbauprojekt "HausWirtschaft" im Wiener Nordbahnviertel

Für die Wissenschaft ist das Wohnbauprojekt im Nordbahnviertel ein ideales Feld.
Für die Wissenschaft ist das Wohnbauprojekt im Nordbahnviertel ein ideales Feld. ©APA/LUIZA PUIU/LUIZA PUIU
Im Wiener Nordbahnviertel entsteht ein "innovativer Lebensraum für 40.000 Menschen", wie es das Quartiersmanagement der Bauträger nennt.

Wie sehen die Städte der Zukunft aus? Für viele Forscher ist das angesichts von Landflucht und Klimawandel eines der Überlebensthemen der Menschheit. Wie ein Wiener Stadtteil der Zukunft aussehen wird, lässt sich auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs studieren. Für die Wissenschaft ist es ein ideales Feld, angewandte Forschung zu betreiben und mitzugestalten.

Experimentelle Quartiersentwicklung am Beispiel Nordbahnhof Wien

"Mischung: Possible! - Experimentelle Quartiersentwicklung am Beispiel Nordbahnhof Wien" heißt ein jüngst im Birkhäuser Verlag erschienener großformatiger Sammelband, in dem die Architektin Silvia Forlati und der Kulturanthropologe, Umwelt- und Raumplaner und Bauingenieur Christian Peer Beiträge zu den Erfahrungen der vergangenen Jahre zusammengetragen haben. Zentrale Botschaft: Eine Nutzungsmischung, die das noch immer geltende Prinzip der Trennung von Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit aufhebt, spielt "heute im Hinblick auf Nachhaltigkeitsziele wie Ressourcenschonung, Klimaschutz und Versorgung eine wichtige Rolle".

Peer ist Senior Scientist am future.lab Research Center der Technischen Universität (TU) Wien und setzt sich mit dem Nordbahnviertel seit langem auseinander. "Die TU spielt als wissenschaftlicher Partner auch eine aktive Rolle und hat den Prozess mitdesignt", sagt er im Gespräch mit der APA. Das gigantische Bauvorhaben ist nämlich nicht nur in technischer Hinsicht bei der Berücksichtigung höchster Nachhaltigkeitsstandards, sondern auch im Hinblick auf Partizipation und Prozesse des Sozialen Lernens eine Herausforderung. "Es sind viele relevante gesellschaftspolitische Diskurse, die hier verhandelt werden."

APA/LUIZA PUIU/LUIZA PUIU ©APA/LUIZA PUIU/LUIZA PUIU

Projekt "HausWirtschaft" im Wiener Nordbahnviertel

Idealtypisch vereint findet sich diese Auseinandersetzung im Projekt "HausWirtschaft" im Wiener Nordbahnviertel, das als "Inspiration für soziale Innovation in der Stadtentwicklung" (Peer) dienen soll. Entstanden aus dem Wunsch einer Gruppe von Menschen, auf dem Areal verschiedene Gesundheitsberufe unter ein gemeinsames Dach zu bringen, ist daraus ein genossenschaftlich geplantes Gebäude geworden, in dem für Wohnen und Gewerbe jeweils 50 Prozent der Fläche gewidmet sind. Auf gemeinsam nutzbare Innenräume und eine gemeinschaftliche große Dachterrasse für die Bewohner wurde ebenso Wert gelegt wie auf kleinteilige und flexibel zu vergebende Arbeitsräume.

Die "HausWirtschaft" ist keine Utopie mehr, sondern ragt in unmittelbarer Nachbarschaft zu der "Freie Mitte" genannten Park- und Brachefläche neben dem ehemaligen Wasserturm bereits in den Himmel. Im Jänner gab es Gleichenfeier. Für die Realisierung ihrer Idee hat die Genossenschaft einen Bauträger gefunden, der das Gebäude errichtet hat und es im Herbst der Genossenschaft als Generalmieter übergeben wird. 48 geförderte Mietwohnungen zwischen 40 und 115 Quadratmetern können Anfang September bezogen werden. Die Kunst des Kompromisses war dabei allerdings Teil des gemeinsamen Entwicklungsprozesses, der für die Wissenschaft deshalb spannend ist, weil sich aus ihm unmittelbare Lehren für weitere Projekte ziehen lassen.

Gebäude in Wien verfügt über Photovoltaik

So verfügt das Gebäude in Wien zwar über Fotovoltaik, Fernwärmeanschluss und Fassadenbegrünung, in der Bauausführung konnte jedoch auf Beton und Plastik nicht verzichtet werden - was viele Genossenschafter nicht glücklich machte und etwa jüngst bei einem Innovationspreis in Brüssel Punkteabzüge brachte. Die Gruppe habe lernen müssen, von ihren Wünschen Abstriche zu machen, weiß Peer.

Auch den Mix der Gewerbemieter zu bestimmen, liegt nicht zur Gänze in der Hand der HausWirtschaftler. Während man in den Obergeschossen etwa mit Praxis- und Therapieräumen im Gesundheitsbereich, einem spanischsprachigen Kindergarten oder dem Kulturzentrum Nordstern selbst Schwerpunkte setzen konnte, liegt die Vergabe einiger Erdgeschossflächen in fremder Verantwortung. Das Erdgeschoßzonen-Management im zweiten Bauabschnitt des Nordbahnviertels - das immerhin rund 70 Geschäftslokale auf rund 25.000 Quadratmeter Gewerbefläche betrifft - wird nämlich zentral abgewickelt. "Das ist Part of the Game", sagt Peer. Einerseits wäre das für den Nutzungsmix des gesamten Areals von Vorteil, andererseits kämen bei einem derartigen Areal-Management Kleinunternehmer erfahrungsgemäß schwerer zum Zug. Hier gebe es bei diesem an sich guten Verfahren noch Verbesserungsbedarf.

Positive Erkenntnisse der experimentellen Quartiersentwicklung

Doch insgesamt überwiegen die positiven Erkenntnisse der experimentellen Quartiersentwicklung bei weitem, versichert der Wissenschafter. Etwa: "Gerade weil alles mit allem zusammenhängt, ist es wichtig, dabei Freiraum für das Ungeplante zu lassen." Oder: "Viele Menschen haben Interesse, eine progressive Entwicklung als Akteur selbst voranzutreiben. Und angesichts der Komplexität der Aufgabe ist erstaunlich, wie viele dieses gemeinsame Ziel über Jahre hinweg verfolgt haben - und auch, was dabei herausgekommen ist. Das müsste der Politik Mut machen, sich selbst mehr zurückzunehmen."

Als Forscher wird Christian Peer dem Thema treu bleiben. Eine österreichweite Innovationswerkstatt soll soziale Innovation und nachhaltige Transformation in der Stadtentwicklung stärker unterstützen, auch das Potenzial von Citizen Science ist dabei noch lange nicht ausgereizt. Als Stadtbewohner wird er selbst aus erster Hand mitbekommen, ob die HausWirtschaft einmal nicht nur in der Planung, sondern auch in der langfristigen Umsetzung als Erfolgsmodell gelten kann: Im September zieht auch er ein.

(APA/Red)

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