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Visueller Totentanz läutet 30. Ausgabe von "Wien Modern" ein

Die 30. Ausgabe von "Wien Modern" wurde Dienstagabend im Konzerthaus eröffnet.
Die 30. Ausgabe von "Wien Modern" wurde Dienstagabend im Konzerthaus eröffnet. ©APA/Herbert Neubauer
Am Dienstagabend wurde "Wien Modern" eröffnet. Das Festival feiert heuer seine 30. Ausgabe.

“Bilder im Kopf” lautet das heurige Motto von Wien Modern – und doch ist man am Dienstagabend mit ganz konkreten Bildern in die 30. Festivalausgabe gestartet. Philippe Schoellers Score zu Abel Gances Anti-Kriegsfilm-Klassiker “J’accuse” hat man im Wiener Konzerthaus praktisch zum Vorglühen genützt, bevor es am 2. November mit Henzes “Floß der Medusa” offiziell losgeht.

Der französische Filmpionier Gance ist heute vor allem für sein megalomanisches Fünfeinhalb-Stunden-Epos “Napoleon” bekannt, hatte sich aber bereits als noch nicht 30-Jähriger mit dem knapp dreistündigen “J’accuse” als einer der avantgardistischen Meister des Genres etabliert. Eine klassische Dreiecksbeziehung zwischen Edith (Marise Dauvray), die mit dem Säufer Francois Laurin (Severin Mars) verheiratet ist und dem jungen Dichter Jean Diaz (Romuald Joube) bildet das Gerüst für eine vehemente Anklage gegen den Krieg, die gedreht wurde, als das Morden des Ersten Weltkriegs noch in vollem Gange war.

30. Ausgabe: Jubiläum für “Wien Modern”

Wien Modern brachte dabei die 2008 vom Nederlands Filmmuseum rekonstruierte Fassung zur österreichischen Erstaufführung, für die Schoeller 2014 ein Konzept aus Liveelektronik mit akustischem Orchester entwickelte. Die Wiener Symphoniker unter Peter Rundel interpretierten nun in Vollbesetzung das filmsymphonische Werk, das der 60-jährige Schoeller vom Steuerpult aus in beeindruckender Präzision durch einen virtuellen Chor oder verzerrte Akkorde ergänzte.

“J’accuse” ist ein Werk aus einer Zeit, in welcher der Film in seiner Formensprache noch nicht kodifiziert war, noch eine stilistische Vielfalt möglich war, wie sie erst Jahrzehnte später wieder denkbar wurde. Viragierte Aufnahmen im Grün der Nacht und Rot der Schlacht, eine Blendenvielfalt und schnelle Schnitte, wie sie selbst im heutigen Actionkino irritieren würden, reihen sich aneinander. Überblendung und ein nicht immer subtiler Symbolismus bilden das Grundgerüst der Arbeit. Es überrascht zugleich, dass Gance auf verhältnismäßig viele Zwischentitel zurückgreift, noch nicht vollends der Kraft der Bilder vertraut.

So lief die Eröffnung von “Wien Modern”

Dabei hatte der Franzose beeindruckendes Material zur Verfügung, wurden die Kampfszenen doch noch während des Krieges bei Verdun gedreht, während Soldaten auf Fronturlaub vor ihrem Todeskommando an der Front das auferstehende Heer der Toten darstellen. Stilistisch noch etwas unausgegoren zwischen konventionellem Melodram und surrealem Essay changierend, gelingt dem Regisseur ein Anti-Kriegsfilm als Totentanz eines ganzen Kontinents.

Diesen begleitet Komponist Schoeller wenig deskriptiv, sondern lässt seine Partitur ein emotionales Eigenleben entfalten. Allenfalls Bombeneinschläge finden hie und da ihren Widerhall im Score. Der 60-Jährige differenziert dabei wenig – die gesamte Partitur ist von Dissonanzen durchzogen, behält im Kampf wie im privaten Glück, bei Kinderspielen wie im Bauerntanz ein subtile Bedrohungshaltung bei. Das Grauen durchzieht alle Lebensbereiche. So stellte die cineastische Anklage einen, wenn auch beileibe nicht ausverkauften, Monumentaleinstieg zum nahenden Weltkriegsgedenkjahr 2018 dar. Bei der noch bis zum 1. Dezember dauernden Festivalausgabe sind nun 46 weitere Produktionen an insgesamt 26 Spielstätten zu sehen, wobei 73 Ur- und Erstaufführungen programmiert sind.

(APA, Red.)

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