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Standing Ovations für "Eine Familie" im Akademietheater

Dörte Lyssewski und Falk Rockstroh in "Tracy Letts (Eine Familie)"
Dörte Lyssewski und Falk Rockstroh in "Tracy Letts (Eine Familie)" ©APA
Alvis Hermanis, neuer Hausregisseur am Burgtheater, schafft im Akademietheater gleich zu Beginn seiner fünfstündigen Inszenierung von Tracy Letts' "Eine Familie" klare Verhältnisse. Am Ende dieser Alltagstragödie erntete der 44-jährige lettische Regisseur sowie das Ensemble Standing Ovations.
"Eine Familie" im Akademietheater

Die Prärie ist nicht nur eine Landschaft, sondern auch ein seelisches Leiden, heißt es in der Ankündigung des Stücks (im Original: “August: Osage County”), für das der amerikanische Autor 2008 den Pulitzer Preis sowie den Tony Award bekommen hat. Und so wird gar nicht erst versucht, eine Idylle an den Anfang zu stellen, um diese dann zu brechen. “Warum gehst du nicht wieder ins Bett?”, fragt Beverly (Michael König) seine im Morgenmantel durch das Haus wankende Frau Violet (Kirsten Dene). “Warum fickst du nicht eine Sau in den Arsch?”, gibt diese zurück. Ganz normaler Ehealltag? Gestern, Samstag, bei der Österreichischen Erstaufführung lautete die simple, aber eindringliche Antwort: Familie ist schlimmer.

Zu Beginn lenkt das bis ins letzte Detail naturalistische Bühnenbild von Monika Pormale mehr ab, als es begeistert. Drei vollgestopfte Zimmer (inklusive brennendem Kamin und funktionstüchtiger Wasserleitung) im Erdgeschoß, drei Schlafzimmer auf der einsehbaren Galerie mit Holzbalustrade. Doch je länger sich die nach dem plötzlichen Verschwinden Beverlys eintreffenden Familienmitglieder in dieser Szenerie bewegen, desto mehr Berechtigung gewinnt das realistische Setting. Hermanis hält dem Publikum nicht nur einen Spiegel vor, sondern holt es mitten ins Geschehen. Und tatsächlich: In diesem Familiendrama findet wohl fast jeder etwas aus seinem eigenen Leben.

Und es sind die famosen Leistungen des Ensembles, die das wilde Treiben fühlbar machen: Als der alte Beverly nach seinem Selbstmord gefunden wird, ist sogleich die unverheiratete, 44-jährige Tochter Ivy zur Stelle, um ihre Mutter zu unterstützen. Sylvie Rohrer wird dabei auf berührende Art und Weise zum Sprachrohr der unterschätzten Töchter dieser Welt: Nur weil sie auf eine Karriere verzichtet hat, um den Eltern beizustehen, keine Kleider tragen will und sich nicht schminkt heißt das noch lange nicht, dass sie keinen Mann findet. Doch Kirsten Dene, die als vom Drogenmissbrauch gezeichnete Furie mit ihren bösen Sticheleien eine wunderbare Mutterfigur gibt, lässt das nicht gelten: “Frauen werden im Alter nicht weniger attraktiv, sie werden hässlich”. Diese Lebensweisheit trifft auch ihre zweite Tochter Barbara tief ins Mark: Sie hat Karriere gemacht, Familie gegründet und wurde soeben von ihrem Mann verlassen, der es jetzt mit einer jungen Studentin treibt, aber dennoch mitgekommen ist, um den Schein zu wahren.

Dörte Lyssewski und Falk Rockstroh zelebrieren dieses Aneinandervorbeileben getrennter Eheleute mit so viel Innigkeit, dass es wehtut. Ihre pubertierende, Haschisch rauchende Tochter gibt Sarah Viktoria Frick, die bereits in Dea Lohers “Adam Geist” einen faszinierenden Auftritt hinlegte. Hier verführt sie kurzerhand den Verlobten der dritten Schwester Karen (Dorothee Hartinger). Und Martin Reinke mimt diesen beim Leichenschmaus telefonierenden, über-coolen Typen mit Leidenschaft und bietet einen wunderbaren Gegensatz zu Dietmar König, der als zurückgebliebener, unsicherer Cousin der Schwestern mit rotblonder Langhaarperücke das Bild einer verkorksten Familie komplettiert und am Ende zum alles zerstörenden Joker wird.

Mit fünf Stunden dauert Hermanis’ Inszenierung zwar sehr lang, die Erschöpfung auf der Bühne und im Zuschauerraum hat jedoch ausschließlich mit dem gelungenen Kraftakt des Ensembles zu tun. Und man verlässt das Theater vielleicht glücklicher, als man hineingegangen ist. Denn man weiß: So schlimm ist die eigene Familie nicht.

“Eine Familie” von Tracy Letts im Akademietheater
Regie: Alvis Hermanis. Weitere Termine am 2., 8., 10. und 12. November, jeweils um 19 Uhr
Infos und Karten unter www.burgtheater.at

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