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Schwere Vertrauenskrise: Deutsche empört über US-Lauschangriff auf Merkel

Ein Bild von Obamas Besuch in Berlin im Juni 2013, das man plötzlich ganz anders interpretieren kann...
Ein Bild von Obamas Besuch in Berlin im Juni 2013, das man plötzlich ganz anders interpretieren kann... ©AP
Berlin/Washington/Brüssel. Die NSA-Affäre ist mit Wucht zurück: Hat der US-Geheimdienst das Handy der deutschen Bundeskanzlerin abgeschöpft? In Berlin ist die Wut groß, das Verhältnis zu Washington scheint empfindlich gestört.
Merkels Handy: Ein lohnendes Ziel

Eiszeit zwischen Deutschland und den USA: Spitzenpolitiker aller Parteien haben den vermuteten Spähangriff auf das Handy von Kanzlerin Angela Merkel durch den US-Geheimdienst NSA scharf verurteilt. Der amtierende Außenminister Guido Westerwelle (FDP) bestellte in Berlin den US-Botschafter zum Rapport ein. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) forderte, die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen Europa und den USA auszusetzen. Auch beim EU-Gipfel in Brüssel war die Empörung über die Geheimdienste von US-Präsident Barack Obama groß.

“NSA-Affäre neu aufrollen”

“Sollten die Vorwürfe zutreffen, dann wäre das eine klare Verletzung deutscher Interessen”, sagte der Vorsitzende des Bundestagsgremiums zur Geheimdienst-Kontrolle, Thomas Oppermann (SPD), in Berlin vor einer Sondersitzung der Abgeordneten. Die NSA-Affäre müsse neu aufgerollt werden. SPD-Chef Sigmar Gabriel betonte, es gehe ums Prinzip: “Ich möchte nicht, dass der Skandal nur deshalb groß ist, weil es einen Regierungschef betrifft.”

Deutsche Delegation reist in die USA

Als Reaktion will die Bundesregierung eine Delegation in die USA schicken. Eine solche Reise sei für die nächste Woche geplant, sagte der FDP-Politiker Hartfrid Wolff am Donnerstag in Berlin nach einer Sitzung des Bundestagsgremiums zur Geheimdienst-Kontrolle. Wolff berief sich auf Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU), der die Abgeordneten über die mögliche Spähaktion gegen Merkel unterrichtet hatte. Details zu Teilnehmern, Gesprächspartnern auf US-Seite oder konkreten Terminen wurden nicht genannt.

Datenschutz wird Thema für Koalition

Der Datenschutz dürfte nun in den Koalitionsverhandlungen von Union und SPD mehr Gewicht bekommen. Die Grünen warfen dem Kanzleramt vor, im Sommer den NSA-Skandal vorschnell zu den Akten gelegt zu haben. Der mögliche Lauschangriff auf Merkels Handy war vom Magazin “Spiegel” enthüllt worden.

Empörte Merkel rief bei Obama an

Merkel hatte am Mittwochabend US-Präsident Barack Obama angerufen, sich beschwert und Aufklärung verlangt. Das Weiße Haus erklärte, Merkel werde nicht ausspioniert. US-Regierungssprecher Jay Carney sagte in Washington: “Die Vereinigten Staaten überwachen die Kommunikation der Kanzlerin nicht und werden sie nicht überwachen.” Dies habe Obama Merkel versichert. Carney drückte sich allerdings um die Frage, ob Merkels Handy in der Vergangenheit längere Zeit abgehört wurde.

Wurde Merkel bis Juli 2013 abgehört?

Das vermuten deutsche Sicherheitsbehörden. In NSA-Dokumenten, die der ehemalige Geheimdienstmitarbeiter Edward Snowden entwendet habe, befinde sich eine alte Handy-Nummer Merkels, berichtete die “Welt” unter Berufung auf Sicherheitskreise. Die Rede sei von einem “verdichteten Verdacht”. Merkel nutzte das betroffene Handy demnach von Oktober 2009 bis Juli 2013. Auch die Bundesanwaltschaft prüft die Hinweise.

Nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa wurde das betroffene Handy Merkels von Experten auf Geheimdienst-Angriffe untersucht. Es spreche aber manches dafür, dass es um Telefonate und SMS-Kurzmitteilungen gehe. Dies sei aber schwer nachzuweisen, weil solche Aktionen keine Spuren hinterließen.

“Die NSA-Affäre ist nicht beendet”

Die Linkspartei forderte einen Untersuchungsausschuss. Dafür bräuchte sie auch Stimmen aus der SPD. Deren Fraktionsgeschäftsführer Oppermann sagte: “Die NSA-Affäre ist nicht beendet. Die Vorwürfe sind nicht vom Tisch. Wir stehen erst am Beginn der Aufklärung.” Der SPD-Politiker vermied angesichts der Koalitionsverhandlungen mit der Union direkte Kritik an Kanzleramtschef Ronald Pofalla (CDU). Der Merkel-Vertraute hatte im Sommer die NSA-Affäre für beendet erklärt.

Pofalla selbst erklärte, die Regierung habe “umfangreiche Überprüfungen” eingeleitet. Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) sagte in der ARD: “Wenn das zutrifft, was wir da hören, wäre das wirklich schlimm.”

Große Empörung auch am EU-Gipfel

Beim EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel schlug die Empörung unter Europas Politikern hohe Wellen. Die Forderungen reichen von einer Unterbrechung der Freihandelsgespräche mit den USA bis hin zur Kündigung von Abkommen zur Datenweitergabe an die Amerikaner.

“Ich glaube schon, dass wir die Gespräche zur Freihandelszone jetzt mal unterbrechen müssen”, sagte der EU-Parlamentschef Martin Schulz. “Das ist kein Arbeiten auf gleicher Augenhöhe.” Die EU verhandelt mit Washington seit Sommer über die Schaffung der weltgrößten Freihandelszone mit gut 800 Millionen Einwohnern. Experten hoffen auf bis zu zwei Millionen neue Arbeitsplätze. Das EU-Parlament redet in der Handelspolitik mit, weil es den Pakt billigen muss.

Spindelegger vermisst “gemeinsame Grundlage”

Österreichs Vizekanzler Michael Spindelegger betonte: “Man kann besonders zwischen befreundeten Ländern nicht einfach jemand anderen abhören, Daten absaugen, verarbeiten, ohne dass es dafür wirklich eine gemeinsame Grundlage gibt.” Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt nannte es “natürlich inakzeptabel”, wenn Telefongespräche von Regierungschefs abgehört würden. Merkel äußerte sich bei einem Treffen der konservativen Europäischen Volkspartei bei Brüssel zunächst nicht zur Lauschaffäre.

Neuer Schwung für EU-weiten Datenschutz

EU-Justizkommissarin Viviane Reding forderte, beim EU-Gipfel in Brüssel den Weg für die EU-Datenschutzreform freizumachen. “Wir brauchen jetzt großen europäischen Datenschutz gegen große Lauschohren”, sagte Reding “Bild Online”. Merkel selbst äußerte sich beim Eintreffen in Brüssel nicht.

Im Sommer war durch Enthüllungen des Ex-NSA-Mitarbeiters Edward Snowden bekannt geworden, dass der US-Geheimdienst seit Jahren weltweit im großen Stil den Datenverkehr abhört. Bislang nicht bewiesen ist, ob davon auch die Kommunikation von Bundesbürgern betroffen ist. Merkel hatte in der NSA-Affäre Anfang Juli mit Obama telefoniert. Die Geheimdienste beider Länder vereinbarten eine noch engere Kooperation. Deutsche und US-Dienste arbeiten seit Jahren im Kampf gegen den Terrorismus zusammen und tauschen Material aus. (red/dpa)

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