“Das Thema Gewalt gegen Frauen war lange Zeit unterthematisiert und hat in einer etwas seltsamen Konstellation sozusagen einen Turboschub bekommen”, sagte der Kriminalsoziologe am Dienstag zur APA. Rund um den Kölner Hauptbahnhof waren in der Silvesternacht Hunderte Frauen beraubt und sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen. Die Angreifer wurden als Männer beschrieben, die dem Aussehen nach aus dem arabischen oder nordafrikanischen Raum stammen.
Ermittlungen nach Übergriffen in der Silvesternacht
Was tatsächlich geschah, ist – nach dem viel kritisierten Einsatz der Polizei und ihrer als desaströs bezeichneten Informationspolitik – nach wie vor Gegenstand von Ermittlungen. “Die Informationslage ist derzeit nicht ausreichend. Viele Süppchen werden auf den Ereignissen gekocht”, konstatierte Kreissl und warnte zugleich vor verallgemeinernden Schuldzuweisungen. Die Strafverfolgung sei Sache der Gerichtsbarkeit. “Justitia ist blind. Vor Gericht ist das Aussehen einer Person egal.” Den Kölner Polizeichef, der seinen Hut nehmen musste, sieht der Kriminalsoziologe als Bauernopfer. Falsch sei es, aus den Leiden der Opfer Kapital zu schlagen. “Es gibt da eine Art stellvertretende Betroffenheit durch Männer. Das ist so ein seltsamer Switch”, meinte Kreissl.
“Ich halte die Thematisierung der Ausländerfrage für sinnvoll und notwendig. Man kann das aber nicht einfach der Pegida, der AfD oder anderen rechtspopulistischen Strömungen überlassen. Die Populisten stellen die richtigen Fragen und geben die falschen Antworten. Die etablierten Parteien haben leider zu lange geschlafen”, sagte Kreissl. “Über viele Jahre oder sogar Jahrzehnte hat es keine ausreichende Integrationspolitik gegeben. Da geht es auch um Wirtschafts-, Bildungs- und Jugendpolitik. Egal, ob es sich um Jugendliche aus dem Kosovo oder aus Favoriten handelt: Wenn man ihnen keine Perspektive gibt, zieht man die nächste Pegida-Generation heran”, mahnte der Kriminalsoziologe.
Auch Wiener in “brodelnder Stimmung” nach Attacken in Köln
Von der Politik fordert Kreissl, endlich realistische Szenarien zu entwickeln. “Schon in den 1970er-Jahren gab es Hinweise unter anderem durch UNO und OECD, dass sich der Ost-West-Konflikt abschwächen und an seine Stelle ein Nord-Süd-Konflikt treten würde. Zugleich gab es Warnungen, dass mit Hunger, Auseinandersetzungen und Krisen zu rechnen sei. Die Politik hat verabsäumt, diese Hinweise zu berücksichtigen. Politiker denken nur bis zur nächsten Wahl. Jetzt bekommen wir die Rechnung dafür.”
Diese besteht in Deutschland unter anderem in einem Zulauf zur rechten Pegida-Bewegung durch “verängstigte Leute, die nach einfachen Lösungen in einer hoch komplizierten Gesellschaft suchen”, sagte Kreissl, der zum Teil auch in Wien eine “brodelnde Stimmung” ortet. “Der Rückgriff auf den Nationalstaat ist keine Lösung. Die Gesellschaft muss begreifen, dass sie multiethnisch und multikulturell ist.”
(apa/red)