AA

Mit Freude und Karacho: Simon Bolivar Youth Orchestra in Salzburg

"Das Schlimmste an der Armut ist nicht das Fehlen von Brot. Das Schlimmste ist das Fehlen von Identität und Selbstwertgefühl." Das sagte Jose Antonio Abreu, der Gründer und geistig-spirituelle Vater des "Sistemas", eines weit verzweigten Netzes von Musikschulen in Venezuela.

Mit diesem musikalischen Sozialprojekt sind mittlerweile mehr als 250.000 Kinder aus den untersten sozialen Schichten von der Straße (und damit von der Kriminalität) weggeholt und an einem Instrument ausgebildet worden. Und an der Spitze des Sistemas steht das Simon Bolivar Youth Orchester und sein Dirigent Gustavo Dudamel. Gestern, Mittwoch, gab das Orchestra in Residence der Festspiele sein erstes großes Konzert in Salzburg.

Mag sein, dass der orchestrale Weichzeichner fehlt, dass sich die einzelnen Teile der Partitur nicht so nahtlos ineinander fügen, wie es unserer klangästhetischen Gewohnheit entspricht. Wer aber eine fünfte Symphonie von Tschaikowsky mit derart konsequentem und sensiblem Piano in den Holzbläsern beginnt, sich dann blitzsauber von den Streichern ablösen lässt, um in ein kollektives Fortissimo von packender Kraft und Klarheit zu münden, der braucht sich hinter keinem Star-Ensemble der Welt zu verstecken. Denn im Simon Bolivar Youth Orchestra of Venezuela treffen bewundernswerte technische Präzision mit leidenschaftlicher, hingebungsvoller Spielfreude in einzigartiger Weise aufeinander. Mit einer gewaltig großen Besetzung von rund 150 Musikern meisterten die maximal 27-jährigen Musiker und ihr ebenso junger Dirigent auch die anspruchsvollsten Klippen dieses romantischen Meisterwerkes auf höchstem technischen Niveau.

Mehr noch: Da ist eine Schleuse geöffnet, durch die Tschaikowsky wie ein Sausewind aus den Partituren in die Felsenreitschule fegen konnte und dabei weder von intellektueller Blässe oder emotionaler Übertriebenheit, noch von grobschlächtigem Gerumpel beeinträchtigt wurde. Tschaikowsky wie er leibt und lebt. Denn in diesem “Slum-Orchester” ist nichts Routine, da ist alles frisch als wäre die Musik gerade erfunden und mit aller Energie selbstbewusster Menschen aufgeladen worden, die Sinn gefunden haben in ihrem Tun. Standing Ovations schon zur Pause für Klassik, die Bock macht – Freude con Karacho.

Aber das war noch nicht alles. Denn im zweiten Teil lagen Noten von Evencio Castellanos und Arturo Marquez auf den Pulten. Und mit diesen lateinamerikanischen Komponisten zeigten die jungen Venezolaner, dass sie rhythmisch hoch komplizierte Strukturen und klangliche Experimente ebenso souverän und “schmissig” wiedergeben können wie das große romantische Repertoire. In diesen salsa-artigen Orchester-Grooves sind schon europäische Profi-Orchester ins Schwimmen geraten. Aber Dudamels unaffektierte und zugleich simple und klare Zeichengebung, verwandelte auch die “Symphonische Suite” sowie den Gassenhauer “Danzon no 2” von Marquez in ein fetzig-unterhaltsames Musikerlebnis. Und bei den Zugaben verwandelte sich dieses bis zum Bersten vitale und dennoch anspruchsvoll-gediegene Symphonieorchester in die wohl spaßigste Bigband der Festspielgeschichte.

In einer Licht-Pause schlüpften die 150 Burschen und Mädchen in ihre traditionelle Orchester-Kluft in den venezuelanischen Nationalfarben gelb, blau und rot. Und jetzt ging endgültig die Post ab. Tanzend, stampfend und ihre Instrumente choreographiert in der Luft schwingend – aber immer noch diszipliniert dem auswendig gelernten Notentext folgend – setzten sie an zu einem vergnüglichen Kehraus, der den Festspielen, ihren Künstlern und ihrem Publikum eine Lehrstunde erteilte in Sachen Lebenslust und Spielfreude. Aber ohne der Seriosität ein Haar zu krümmen. Caramba. Von Christoph Lindenbauer

  • VIENNA.AT
  • Kultur
  • Mit Freude und Karacho: Simon Bolivar Youth Orchestra in Salzburg
  • Kommentare
    Kommentare
    Grund der Meldung
    • Werbung
    • Verstoß gegen Nutzungsbedingungen
    • Persönliche Daten veröffentlicht
    Noch 1000 Zeichen