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"Lost Places": Spuren der Vergangenheit in Wiens Gebäuden

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Archäologe Marcello La Speranza untersucht keine römischen oder keltischen Ausgrabungen, sondern verfallene Industriebauten und gewöhnliche Wohnhäuser in Wien. Er ist dabei auf der Suche nach Spuren aus der Monarchie oder dem Zweiten Weltkrieg. VIENNA.at hat den Neuzeitarchäologen bei seiner Arbeit in den Kellern Wiens begleitet.
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Eine Wohnhausanlage im 14. Bezirk. Über dem Eingang zeigt ein Relief mehrere Personen. “Das Relief mit der Darstellung von Mutter und Kind ist ganz typisch für die NS-Zeit”, erklärt Marcello La Speranza. Der Historiker und Archäologe deutet auf eine Metallplatte, die dicht über dem Boden an der Hauswand angebracht ist. “Bei der Platte handelt es sich um eine Luftschutzblende. Das ist für mich ein Hinweis, dass sich in diesem Haus ein Luftschutzkeller befinden könnte”, meint La Speranza. Der Archäologe ist immer auf der Suche nach solchen Gebäuden, in denen sich noch Spuren des Zweiten Weltkrieges finden lassen. Besonders interessiert ist er an ehemaligen Luftschutzkellern, in denen die Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges vor Luftangriffen geschützt werden sollte. Die Luftschutzblenden dienten laut La Speranza dazu, die Keller gegen Luftdruck abzuschirmen.

Luftschutzkeller in Wohnanlagen

Auf gut Glück drückt der Historiker auf eine Klingel. Ein Hausbewohner öffnet und La Speranza steigt mit einer Taschenlampe in der Hand die Kellertreppe hinab. Eine Stahltüre schließt den Eingang zum Luftschutzkeller ab. La Speranza öffnet die Türe und betritt einen kleinen Raum, an dessen anderer Seite wieder eine Stahltüre angebracht ist. “Wir stehen jetzt in der sogenannten Gas-Schleuse”, so La Speranza. Er erklärt, dass diese Schleusen vor einem möglichen Giftgasangriff schützen sollten. Er drückt die zweite Luftschutztüre auf. Der Luftschutzkeller dient nun wohl als Abstellraum. Zerschlissene Möbel stehen in einer Ecke, alte Tapete schält sich von den Wänden.

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VIENNA.at Holzinger ©Archäologe Marcello La Speranza in einem ehemaligen Luftschutzkeller. (c) VIENNA.at Holzinger

Wohngebäude archäologisch erforschen

“Ich weiß nie, was ich in einem Keller vorfinde. Ich bin froh, dass ich noch keine Leiche gefunden hab”, so La Speranza. Hunderte Gebäude in Wien hat der Historiker in den letzten 20 Jahren archäologisch erforscht. Darunter nicht nur Wohnhausanlagen, sondern auch verfallene Industriebauten wie das Gaswerk Leopoldau. Dieses stammt noch aus der Monarchie. Für La Speranza handelt es sich bei diesen Gebäuden um “Lost Places”. “Verlorene Plätze. Plätze, die stillgelegt sind und die man meist nicht mehr betreten kann.”

Archäologische Grabung bei Flakturm

Bei dem Flakturm im Wiener Arenbergpark führte La Speranza eine archäologische Grabung durch. Dabei fand er unter anderem Feldpostbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg und Kinderspielzeug. “Funden aus dem Zweiten Weltkrieg wird keine große Bedeutung beigemessen”, bedauert La Speranza. Er plädiere dafür, die Zeit des Nationalsozialismus genauso archäologisch aufzuarbeiten und zu dokumentieren wie beispielsweise die Zeit der Römer. “Wenn man einen Wehrmachtshelm findet, sollte dieser den gleichen Stellenwert haben wie ein römisches Schwert”, meint La Speranza.

Inschriften an Wänden der Luftschutzkeller

Der Historiker schaut sich im ehemaligen Luftschutzkeller im 14. Bezirk um. Hinter einer grün gestrichenen Holztüre führen Eisensprossen zu den Luftschutzblenden, die an der Außenseite des Gebäudes zu sehen waren. Dabei handelte es sich La Speranza zufolge um die Notausgänge.

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VIENNA.at Holzinger ©Der Notausgang des Luftschutzkellers im 14. Bezirk. (c) VIENNA.at Holzinger

Manchmal findet er in den alten Luftschutzkellern noch Phosphorleuchtstreifen. Diese sollten den Menschen während eines Stromausfalles zur Orientierung dienen. “Die Phosphorstreifen leuchten nach 70 Jahren immer noch”, meint er begeistert. Auch Inschriften wie “Rauchen verboten” oder “Ruhe bewahren” seien noch in den Kellern zu sehen. “In einem Keller im 8. Bezirk hat jemand mit Bleistift an den Kellerverputz geschrieben und da eine Art Tagebuch geführt. Die Zeiten der Angriffe waren notiert”, berichtet La Speranza. Im ehemaligen Luftschutzkeller im 14. Bezirk ist an der Holztüre, die zum Notausgang führt, ebenfalls eine Inschrift zu lesen. “7.IV.1945” steht dort in eckigen Klammern.

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VIENNA.at Holzinger ©La Speranza findet in den Luftschutzkellern immer wieder alte Inschriften. (c) VIENNA.at Holzinger

Spuren der Vergangenheit dokumentieren

Meist geht La Speranza ungefragt in die Gebäude. Die Hausbewohner würden ihm jedoch meist freundlich begegnen, so der Historiker. “Manchmal sind auch noch alte Hausbewohner da, die mir etwas über das Gebäude erzählen können, weil sie beispielsweise als Kinder selbst im Luftschutzkeller waren”, meint La Speranza. Die Wohnhäuser, welche Spuren aus der Zeit des Nationalsozialismus enthalten, seien meist Glücksfunde. Neben Luftschutzblenden deuten manchmal auch Kalkpfeile an Häuserfassaden mit dem Vermerk LSK auf einen Luftschutzkeller hin. “Wenn die Fassade neu gestrichen wird, verschwinden diese Spuren”, bedauert La Speranza. Er dokumentiert alle Gebäude, die er archäologisch untersucht und trägt sie in einen Plan ein. “Man kann nicht alle Gebäude erhalten, aber deshalb ist es wichtig, sie zu dokumentieren. Das ist schließlich ein Teil der Wiener Geschichte”, begründet La Speranza seine Arbeit.

Er zieht die schwere Stahltüre des Luftschutzkellers im 14. Bezirk hinter sich zu. “Bis jemand hier herunter kommt oder der Keller umgebaut wird ist die Aura der Vergangenheit stehen geblieben”, meint La Speranza.

Vortrag und Bücher über “Lost Places” in Wien

Wer mehr über die Arbeit von Marcello La Speranza und die “Lost Places” in Wien erfahren möchte, kann sich für den Vortrag des Historikers am 26. September 2017 in der VHS Mariahilf, Neubau, Josefstadt anmelden. Mehr Informationen unter www.vhs.at.

Seine Forschungen über die “Lost Places” in Wien hat La Speranza in einer dreiteiligen Bücherreihe festgehalten. Die Werke “Begegnungen”, “Erforscht” und “Dokumentiert” sind im Verlag MoKKa erschienen. Mehr Informationen unter www.edition-mokka.eu.

 

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