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Letzte Tage. Ein Vorabend bei den Wiener Festwochen

Das Stück wird im historischen Sitzungssaal des Parlaments gezeigt.
Das Stück wird im historischen Sitzungssaal des Parlaments gezeigt. ©Walter Mair
Am Freitagabend wurde im Rahmen der Wiener Festwochen Christoph Marthalers Stück "Letzte Tage. Ein Vorabend" gezeigt. Ein Stück über Rassismus und den Dämon des Echten.
Programm und Premieren
Theaterstück im Parlament

Am Freitagabend feierte bei den Wiener Festwochen eine ungewöhnliche Zustandsbeschreibung Europas seit dem ersten Weltkrieg ihre umjubelte Premiere. Ein eindringliches Panoptikum über den Rassismus als Säule unserer Gesellschaft, getränkt von viel Musik, viel Humor, viel Geschichte und von dem schrecklichen Dämon des Echten. Denn die Texte, die Marthalers Darsteller aufsagen, während sie in den Sitzreihen des historischen Sitzungssaals des Parlaments  als Putzfrauen und als Politiker, als Insassen und als Aufsässige, als Täter und als Opfer ihres Amtes walten, stammen mit einer einzigen Ausnahme aus realen Quellen, aus Protokollen, Interviews, Zeitungen. Die Ausnahme ist die Begrüßungsrede – ein Willkommen zum “Tag gegen Rassismus, anlässlich der Schließung des Konzentrationslagers Mauthausen vor 200 Jahren”. Wie man kurz darauf erfährt, wurde der europäische Antisemitismus soeben als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt. In Europa ist man längst “unter sich”. Gelächter aus dem Publikum.

Stück thematisiert Rassismus im Alltag

Aber auf die Zukunft folgt schnell die Vergangenheit, ein beleibter Abgeordneter nimmt Platz und hebt zu einer nicht minder absurden Rede an: über die Übermacht der Juden, über deren “Praktiken”, über die “wahren Feinde”, die man dem Volk aufzuzeigen habe. Es ist die Rede, die Karl Lueger im Jahr 1894 an exakt dieser Stelle gehalten hat. Gelacht wird jetzt nur mehr wenig. Über zweieinhalb Stunden folgt ein Zitatbeschuss, in dem sich die Zeitebenen längst aufgelöst haben. Österreich damals. Ungarn heute. Graz, vor kurzem. Wien, eine alte Dame, alltäglich. Fremdenangst, Fremdenhass, nicht ganz unverhohlen. Sondern immer dieses ausweichende Aufstacheln.

Anschließendes Konzert bei den Festwochen 

Dazwischen, darüber, dahinter ist die Musik – und gewinnt im Laufe des Abends immer mehr die Oberhand. Es sind Kompositionen, deren Schöpfer vertrieben oder ermordet wurden. Viktor Ullmann gibt mit einem zartbitteren Fragment die Melodie vor. In den berührenden Arrangements von Uli Fussenegger (selbst am Kontrabass) für ein kleines Streich- und Akkordeonensemble sind viele weitere vertreten: Ernest Bloch und Pavel Haas, Szymon Laks und Jozef Koffler. Dazwischen Kreisler, Wagner (in wenig schmeichelhaftem Kontext) und Bernhard Lang. War sie zunächst noch Umrahmung, scheint die Musik den Text immer weiter zu verdrängen – bis der Abend schließlich in ein Konzert mündet.

 “Letzte Tage. Ein Vorabend”

Mit seinem “Vorabend” begreift Christoph Marthaler den ersten Weltkrieg und seine Vorläufer als den Beginn einer Denk- und Fühltradition, der wir bis heute verhaftet sind. Wir und die anderen. Nation, Religion, Heimat. Textlich und gestisch weist er nach, dass es sich um ein und dieselbe, ungebrochen tradierte Narration handelt – bei den Kriegstreibern von damals und den Aufstachlern von heute. Man treibe keine Hetze, sagt Lueger. Man belehre nur das Volk über seine Absichten. Kurz darauf jodelt eine heutige Rechtspolitikerin ins Mikro – der Loop ihrer Stimme hallt durch die ehrwürdigen Hallen.

Theaterabend leider kein Theater

Weil die Geschichte sich wiederholt, hat auch dieses Geschichtspanorama Redundanzen, auch Längen. Die Diagnose selbst ist schnell gestellt und kommt wenig überraschend. Aber Marthaler erweist sich ein weiteres Mal als Meister der Stilfigur. Das Setting im Sitzungssaal gibt den Zeitzeugnissen bestürzend viel ihrer Echtheit zurück. Durch Licht, Klang, Clownsnasen und Baugerüste für die Statuen, allesamt verschwindend geringe Eingriffe am Ort, drückt er ihm doch seinen stimmungsvollen Stempel auf. Sängerin Tora Augestad sowie die Darsteller Silvia Fenz als “Wiener Dame von Welt” oder Josef Ostendorf als “In der Geschichtsschleife hängengebliebener Europäer” sorgen für Gänsehaut. Weil dieser besondere Theaterabend eben leider kein Theater ist.

 Weitere Vorstellungen am 18., 21., 24., 25., 27. und 28. Mai, 19.30 Uhr, Parlament, historischer Sitzungssaal (APA)

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