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Kritik am Maßnahmenvollzug in Österreich: "Entwicklung verschlafen"

Maßnahmenvollzug in Österreich platzt aus allen Nähten
Maßnahmenvollzug in Österreich platzt aus allen Nähten ©APA
Der Maßnahmenvollzug in Österreich platzt mittlerweile aus allen Nähten.  Denn durch Personalmangel und wenig Nachversorgung dauert die Anhaltung von geistig abnormen Rechtsbrechern oftmals länger als notwendig.
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815 Menschen leben, mit Stichtag 1. Juli, derzeit im Maßnahmenvollzug. Mittlerweile stellen nicht die Gewalttäter die größte Gruppe der nicht zurechnungsfähigen, geistig abnormen Rechtsbrecher dar, vielmehr werden Menschen öfter wegen gefährlicher Drohung oder gar Nötigung eingewiesen.

Somit reicht eine Drohung wie “Ich bring dich um” aus, um einen Menschen jahrelang hinter Gitter zu bringen, wie eine Untersuchung des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie zeigt. “Das Sicherheitsgefühl der Leute hat sich verändert, obwohl sich die Therapie verbessert hat”, sagte der Leiter des Forensischen Zentrums in Asten in Oberösterreich, Martin Kitzberger. In der Anstalt sind zurechnungsunfähige, geistig abnorme Straftäter untergebracht.

Vorarlberger seit 1998 im Maßnahmenvollzug

Ein Schicksal, mit dem vor allem Herr K. zu kämpfen hat. Der Vorarlberger sitzt seit 1998 im Maßnahmenvollzug, wie er im APA-Gespräch berichtete. “Ich würde mich nach einem Ende sehnen”, sagte der konvertierte Buddhist, der zunächst in der niederösterreichischen Justizanstalt Göllersdorf (Bezirk Hollabrunn) untergebracht war, aber seit einigen Jahren im Forensischen Zentrum in Asten nahe der Justizanstalt Linz lebt. Nach einem Autounfall und Alkoholmissbrauch ging es mit K. bergab. Schlussendlich hat er für seine Hilfsbereitschaft teuer bezahlen müssen. Weil er einer Frau geholfen hat, sich das Leben zu nehmen, wurde K. eingewiesen.

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K. ist einer von rund 20 Männern, die bereits Ausgänge unternehmen dürfen. Erst vor kurzem verbrachte er eine Woche bei seiner Mutter in Vorarlberg. “Aber die hängt mir die ganze Zeit im Genick”, fühlt sich K. kontrolliert. Doch die Ausgänge hat der Mittvierziger noch nicht wirklich im Griff. “Man kann sich selbst viel kaputt machen”, beschreibt er seine Rückfälle mit Alkohol. “Was braucht man mehr als die Freiheit und vielleicht eine Freundin?”, so Herr K.

1975 kam Maßnahmenvollzug

Der Maßnahmenvollzug wurde 1975 eingeführt. Das Strafgesetzbuch sah vor, dass mit einer auf den Betreffenden abgestimmten Therapie die als gefährlich eingestuften Straftäter insoweit “geheilt” werden sollen, als von ihnen im Fall ihrer Entlassung keine Gefahr mehr ausgeht. Die Realität sieht allerdings anders aus. Die Zahl der Menschen im Maßnahmenvollzug ist vor allem im vergangenen Jahrzehnt explosionsartig angestiegen, wie die Untersuchung des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie ergab. Im Beobachtungszeitraum 2001 bis 2010 stieg die Anzahl der untergebrachten geistig abnormen Rechtsbrecher von 572 auf 922 an, was eine Zunahme von 61 Prozent innerhalb von nur zehn Jahren bedeutet. Rund 70 Prozent von ihnen leiden unter Schizophrenie.

Aber nicht nur die Zahl der Insassen stieg enorm an, auch die Unterbringungsdauer dieser Menschen nahm deutlich zu, was auch Asten-Leiter Kitzberger gegenüber der APA feststellte. Mittlerweile hat sich die Anhaltedauer um das 1,4-Fache von durchschnittlich 3,5 auf fünf Jahre erhöht, wie die Untersuchung ergab. Therapiefortschritte werden einmal jährlich geprüft. Gut ein Drittel der Menschen im Maßnahmenvollzug könnte jedoch sofort entlassen werden, ist Kitzberger überzeugt.

“Patienten” in Göllersdorf

In Asten wie auch in Göllersdorf sind jene Straftäter untergebracht, die aufgrund einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad zurechnungs- und somit auch schuldunfähig sind (Paragraf 21 Abs. 1 StGB). Die im Justizjargon “Einser” Genannten bekommen keine Strafe, sondern werden so lange behandelt, bis sie keine Gefahr mehr für andere darstellen. Die Insassen werden nicht als Gefangene bezeichnet, sondern als “Patienten” geführt.

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“Wir sagen bewusst Patient zu den Menschen in der Justizanstalt Göllersdorf”, sagte Anstaltsleiterin Karin Gruber. Man wolle den Menschen fair und aufrichtig begegnen und “mit besten Wissen und Gewissen behandeln”, so Gruber über ihre Einrichtung, ein Renaissanceschloss, in dem 137 Männer untergebracht sind. Eigentlich ist das Haus nur für 120 zurechnungsunfähige Menschen konzipiert.

Nachbetreuungsplätze fehlen

Geistig abnorme Rechtsbrecher sind nicht hermetisch von der Außenwelt abgeschnitten. Sie nehmen an der Freizeitgestaltung teil und müssen einer geregelten Beschäftigung nachgehen. “Jeder macht, was er kann”, die Arbeit soll dabei helfen, wieder Fuß zu fassen, erzählte Ergotherapieassistentin Gertrude Schießwohl, die mit ihren Patienten beim APA-Besuch in Göllersdorf Nüsse aufschlug. Nur langsam und sehr bedächtig wurden die Plastikschüsseln mit den entfernten Nusskernen gefüllt. Nur Herr M. “hat sich verdünnisiert”, bemerkte Schießwohl. Der große, rundliche Mann war in einen anderen Raum geschlurft. “Er will Ausgang haben, aber auch er muss die Regeln lernen”, sagte die Therapeutin.

Denn zusätzlich zur Arbeit gibt es Therapien durch Psychiater, Psychologen und Sozialarbeiter. Über die Art der Behandlung – beispielsweise Einzel- oder Gruppentherapie – und deren Intensität wird in den Anstalten entschieden. Für viele der Insassen sei die Einrichtung “fast wie ein Familienersatz. Sie haben hier erstmals Strukturen”, betonte die Anstaltsleiterin von Göllersdorf, Karin Gruber.

“Es könnte ein bisschen mehr sein”

Über die Anzahl des Fachpersonals können die Leitung in Göllersdorf wie auch Asten nicht klagen. “Ich will nicht jammern, es könnte ein bisschen mehr sein”, so Gruber. “Im Vergleich mit anderen Einrichtungen stehen wir aber sehr gut da”, weiß der Leiter des Psychiatrischen Dienstes in Göllersdorf, Alexander Dvorak. Doch obwohl die zurechnungsunfähigen Insassen gut betreut sind, werden sie lieber später als früher entlassen.

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Warum? Es fehlt an Betreuungseinrichtungen – Übergangsheime, Pflegeeinrichtungen, Familienbetreuung, Altersheime und Behindertenheime “draußen” sind Mangelware, erklärte der Leiter in Asten, Martin Kitzberger. Denn wenn neue Nachbetreuungseinrichtungen gebaut werden sollen, legt sich die Bevölkerung quer, wie aus Justizkreisen zu erfahren war. Geistig abnorme Rechtsbrecher will niemand in seiner Umgebung haben, heißt es.

Übergang muss funktionieren

“Der Übergang von inhaftiert sein in die Freiheit muss gut funktionieren”, sagte Gruber. “Die beste Rückfallvermeidung ist das Setting nach der Entlassung”, meinte Kitzberger. Es sei wichtig, dass alle das gleiche Ziel verfolgen, nämlich die bedingte Entlassung. “Diese Menschen werden eine Betreuung ein Leben lang brauchen. Wie intensiv hängt von jedem einzelnen ab”, betonte der Chef der Pflegeabteilung in Asten, Martin Purner.

In Asten wird gerade das Forensische Zentrum ausgebaut. Das Haus, das mehr einem Sanatorium ähnelt als einer Unterbringung für Straftäter, soll bis 2015 dann Platz für 150 geistig abnorme Straftäter bieten. Derzeit leben 91 Insassen in der Einrichtung. Nach dem Vorfall einer Vernachlässigung in der Justizanstalt Stein hat Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) den Bau eines weiteren Stockwerkes genehmigt. Mit neuen Plätzen in Maßnahmeneinrichtungen soll Geld gespart werden. Kostet doch die forensische Betreuung eines Patienten pro Tag in einer Einrichtung wie Asten rund 160 Euro, in einer Klinik 400 Euro. “Nach zwei Jahren wird sich der Zubau von den Kosten her rentiert haben”, so Kitzberger.

Haftanstalt Stein klagt: “Spezialisten fehlen”

Mit anderen Problem hat die Justizanstalt Stein in Niederösterreich zu kämpfen. Nach einem öffentlich diskutierten Vorfall, bei der ein Häftling im Maßnahmenvollzug vernachlässigt wurde, zeigte sich die Leitung im APA-Gespräch zunächst verhalten, bittet “um Verständnis”. “Österreich hat die Entwicklung verschlafen”, beschrieb der stellvertretende Anstaltsleiter, Roland Wanek, die Situation. Das Personal ist in der Justizanstalt notorisch unterbesetzt. “348 Justizwachebeamte sollten es sein, 298 sind tatsächlich da.” 175 Beamte sind notwendig, um den Tag zu bewältigen, doch “145 hab ich, wenn es gut geht”, so Wanek. Im Sommer muss Stein aufgrund von Urlauben sogar nur mit 130 Beamten auskommen.

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Somit könne in dieser Zeit der Werkstättenbetrieb nicht aufrechterhalten werden. “Dann sitzen die Gefangenen 23 Stunden in ihrer Zelle, bekommen kein Geld. Da steigt das Aggressionspotenzial”, meinte Wanek. Auch das für Notfälle wichtige Schießtraining für die Justizwache findet seit geraumer Zeit nicht statt, “weil ich die Leute brauche, um den Gefängnisbetrieb aufrecht zu erhalten.” Durch den Personalmangel laufen “viele Beamte auf 100 Prozent und trotzdem geht es sich nicht aus”.

Unbefristene Behandlungen in Stein

Neben dem Vollzug von Freiheitsstrafen – viele lebenslänglich – gibt es in der Justizanstalt Stein auch den Maßnahmenvollzug für insgesamt 108 zurechnungsfähige, geistig abnorme Rechtsbrecher (Paragraf 21 Abs. 2 StGB). Diese werden zu einer Haftstrafe und zusätzlich zu einer Maßnahme, sprich einer unbefristeten Behandlung, verurteilt. Gerade für diese Insassen, darunter Inzest-Vater Josef F. sowie Philipp K., der in Wien seine Ex-Freundin getötet und zerstückelt hat, wäre eine optimale Betreuung sehr wichtig. Doch für alle 790 Insassen gibt es nur eine Psychiaterin. Die zweite Fachkraft hat gekündigt, kommt aber freiwillig zur Aushilfe. “Doch wenn sie sagt, sie kommt nicht, dann kommt sie nicht”, so Wanek. Somit wird händeringend nach einem Psychiater gesucht. “Das Interesse würde bestehen, aber das Budget ist nicht vorhanden.” Nach dem Vernachlässigungsfall wurden vier Fachkräfte angekündigt, doch “hier sind sie nicht angekommen”.

Ein Arzt für 800 Häftlinge

Während es in Asten einen Allgemeinmediziner für 91 Insassen gibt, betreut ein Arzt in Stein fast 800 Häftlinge. Ein zweiter Mediziner ist lediglich für 15 Stunden pro Woche in der Anstalt. Nur das Krankenpflegepersonal ist gut aufgestellt. Etwa 20 Personen arbeiten in der zweitgrößten Haftanstalt Österreichs. “Das ist das einzige, was seit Jahren gut abgedeckt ist”, berichtete Wanek. “Aber die Spezialisten fehlen und die wären so wichtig”, sagte Amtsinspektor Walter Schöberl, der als Vorgesetzter bei dem Fall von Vernachlässigung zu Hilfe gerufen wurde. “Wir würden welche finden, wenn der Stundenlohn angemessen wäre”, meinte Wanek.

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So bekommen nicht alle Häftlinge im Maßnahmenvollzug psychiatrische Betreuung, obwohl der gesetzliche Auftrag besteht. Gerade jene, die diese Maßnahme verweigern, fallen umso mehr durch den Rost. Ein weiteres Problem: Bei nur einer Psychiaterin ist die Gefahr, dass der Insasse mit der Fachkraft “nicht kann”, umso größer. “Er hat keine andere Alternative”, so Schöberl. Somit wird der Justizwachebeamte zum Therapeuten und Ansprechpartner für den Insassen, er betreut den Häftling fünf bis sechs Stunden am Tag. Hier in Stein seien “die hoffnungslosen Fälle”, weit entfernt von einer Entlassung. Nicht umsonst würde die Justizanstalt als “Endstation Stein” bezeichnet werden, meinte Wanek.

“Auslastung ist bereits am Limit”

Justizminister Wolfgang Brandstetter hat für das Jahr 2014 die Schaffung von Betreuungsplätzen für die poststationäre Versorgung ehemaliger Strafgefangener ankündigt, zugleich in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung aber fehlende Kapazitäten “in einigen Versorgungssegmenten, insbesondere für Personen mit speziellen Bedürfnissen” eingeräumt. “Die Auslastung ist bereits am Limit. Bereits bei über 90 Prozent beginnen die Schwierigkeiten”, sagte Albert Steinhauser von den Grünen, der die parlamentarische Anfrage eingebracht hatte. Laut Brandstetter will das Justizministerium seine Bemühungen zur Erweiterung des Nachbetreuungsmanagements weiter intensiv verfolgen. “Ohne Ressourcenaufstockung wird es jedoch keine Weiterentwicklung geben”, meinte Steinhauser.

(Die Namen der Insassen des Maßnahmenvollzugs wurden zum Identitätsschutz teilweise unkenntlich gemacht.)

(APA)

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