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Flüchtlingskrise 2015: Was wurde aus "Wir schaffen das"?

Österreich war auf den Flüchtlingsstrom 2015 nicht vorbereitet.
Österreich war auf den Flüchtlingsstrom 2015 nicht vorbereitet. ©APA/HANS PUNZ
Begriffe wie Balkanroute, Grenzzaun und Willkommenskultur sind in Österreichs jüngerer Vergangenheit untrennbar mit dem Jahr 2015 verbunden. Fünf Jahre ist es mittlerweile her, dass Österreich einen riesigen Flüchtlingsansturm erlebte und versuchte, der Menschenmassen Herr zu werden.
Kurz und Kern blicken zurück

"Wir schaffen das!" Knapp fünf Jahre sind seit der wohl berühmtesten Aussage der Flüchtlingskrise vergangen. Die unterschiedlichen Reaktionen auf den Satz der deutschen Kanzlerin Angela Merkel 2015 sind symptomatisch für die Stimmung in Sachen Migrationspolitik. Sie zeigen und zeigten die tiefe Spaltung der Gesellschaft in fast allen europäischen Ländern klar auf.

Zwar existierte diese Bruchlinie auch schon davor, doch durch die Flüchtlingskrise wurde sie sichtbarer, da und dort riss sie die Gräben noch viel tiefer auf. Nachhaltig verändert habe die Flüchtlingskrise Österreich nicht, meint der Soziologe und Jurist Wolfgang Gratz im Gespräch mit der APA. Die Tendenzen seien nur "stärker wahrnehmbar" geworden. Zu Beginn seien die vorhandenen "Spaltungserscheinungen der Gesellschaft" für einige Wochen sogar überwunden worden, indem auch etwa Boulevardmedien positiv über die Flüchtlingsbewegungen, die Hilfsaktionen auf Bahnhöfen und Co berichtet hätten und es fast keine kritischen Stimmen gegeben habe, erinnert er. Doch an einem bestimmten Punkt sei das Ganze gekippt, "mit dem Ergebnis, dass Flüchtlinge nun vorwiegend negativ konnotiert sind", so Gratz.

Flüchtlingskrise: Politik war gänzlich unvorbereitet

Hier spielt die Politik eine wesentliche Rolle. Weil die großen Fluchtbewegungen so gut wie alle Länder gänzlich unvorbereitet trafen, entstand in der Bevölkerung der Eindruck, die Politik habe die Kontrolle darüber verloren. Die Bilder von überfüllten Bahnhöfen taten ihr Übriges. Nach und nach nutzten Parteien und Regierungen in ganz Europa dann das Thema Migration - im negativen Kontext - zur Durchsetzung ihrer Interessen. Nicht von ungefähr kommt der Aufstieg der rechtspopulistischen Parteien, die, mit der tief sitzenden Angst vieler spielend, in fast allen Mitgliedsstaaten in Folge der Flüchtlingskrise Zugewinne verzeichnen konnten, vielerorts wurden sie sogar in Regierungen gehievt. Eine Stärkung der linken Extremen ist laut der Politikwissenschafterin Sieglinde Rosenberger hingegen nicht evident.

"Nicht die Flüchtlingszuwanderung, sondern die Politisierung als Flüchtlingskrise hat die politischen Machtverhältnisse in Österreich verändert. Seither fand eine Art Normalisierung der rechtspopulistischen Migrationspolitik statt", erklärt Rosenberger gegenüber der APA. In Österreich seien "ehemals rechtspopulistische Argumente und Abgrenzungen" über die ÖVP in der Mitte der Politik angelangt. Die Volkspartei habe die Flüchtlingszuwanderung "genutzt, sich ein rechtes Profil zu geben", betont die Wissenschafterin, die seit 2018 Mitglied des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration ist.

Österreich hat aus Flüchtlingskrise nichts gelernt

Für ihn sei es "frappant" gewesen, dass von politischer Seite "keine Rahmung der Ereignisse" vom Herbst 2015 versucht wurde, sagt Gratz. "Eine Rahmung hätte lauten können: 'Ja, wir wurden überrascht, aber wir haben daraus gelernt und können auch stolz sein auf den gemeinsamen Kraftakt, den wir geschafft haben'", so der Experte.

Was Gratz außerdem vermisst, ist eine Aufarbeitung, eine Analyse der "ultrakomplexen" Flüchtlingskrise. In Österreich sei sie "zu wenig ausgewertet worden, um daraus wirklich etwas zu lernen", kritisiert er. Gleichzeitig regt er einen Dialog aller involvierten Akteure - NGOs, Bund, Länder, Gemeinden und Freiwillige - an, um Sichtweisen auszutauschen und "voneinander zu lernen".

Auch Kritik an der EU

Nachholbedarf gäbe es auch auf EU-Ebene, so der Befund der Politikwissenschafterin. Die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU in Sachen Migration und Asyl sei in und nach der Krise deutlich geworden. "Entscheidungen, die nicht im Konsens, sondern über das Prinzip der Mehrstimmigkeit zustande kommen, werden von einigen Ländern nicht akzeptiert, und einstimmige Entscheidungen kommen in diesem Feld kaum mehr zustande", sagt Rosenberger. Doch wie die Coronakrise mache auch die Flüchtlingskrise nicht an der Grenze Halt. "Um problemlösungsorientiert zu sein, bräuchte es grenzüberschreitende Kooperationen und nicht die Stärkung des Nationalismus."

Die Flüchtlingsthematik hat also nicht nur die Spaltung innerhalb der Gesellschaft, sondern auch in der Politik sichtbarer gemacht und oft auch verstärkt. Eine sachliche Diskussion mit Vertretern des anderen Meinungsspektrums - egal ob am Esstisch mit der Familie, in der Bar mit Bekannten, aber auch am Verhandlungstisch zwischen Politikern - ist aufgrund der starken Emotionen, die das Thema hervorruft, teilweise gar nicht möglich. Ein echter Diskurs und Austausch wäre für eine nachhaltige Lösungsfindung allerdings dringend notwendig.

Hat man es wirklich geschafft?

Für ihre Aussage "Wir schaffen das", die sie eigentlich "anspornend, dezidiert anerkennend" gemeint hatte, wie die deutsche Kanzlerin später erklärte, wurde Merkel von den einen gelobt, von den anderen verteufelt. Die Antworten auf die Frage, ob Deutschland, Österreich und die EU die Krise "geschafft" haben, sind dabei ähnlich divergierend wie die Reaktionen auf die Aussage selbst und die Stimmung in der Bevölkerung.

(APA/red)

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