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Eine Zugfahrt von Wien nach Kiew...

"Wir trauten unseren Augen nicht, als ein ukrainischer Schlafwagen, der an den Shuttle-Zug Wien-Preßburg angehängt wurde, in den Wiener Westbahnhof rollte."

“Wie schafft es dieser bis nach Kiew, wo es in der Ukraine doch die östliche Spurweite gibt? Andererseits war die West-Ukraine doch früher ein Teil der Donaumonarchie und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion angeschlossen. Also erwartete uns vielleicht ein Zugwechsel irgendwo in der Ukraine?

Nein, dies konnte nicht sein, denn einige Landlerfrauen aus Rumänien hatten doch einmal berichtet, dass sie nach dem Krieg fünf Jahre lang Zwangsarbeit in der Sowjetunion leisten mussten, beim Eisenbahnbau, um die westliche Spurweite auf die östliche zu ändern. Das Rätsel wurde erst in der ukrainischen Grenzstation Chop (Tisza) gelöst: Der Waggon wurde mit einem riesigen Kran hochgehoben und die Räder gewechselt. Eine langwierige Arbeit – kein Wunder, dass es nur einen direkten Waggon gab.

Der ukrainische Schlafwagen war auch sonst voller Überraschungen. Wie schafft man es ins oberste Bett, das in einer Höhe von über zwei Metern liegt, wenn keine Leiter zur Verfügung steht? Der Schaffner kam und warf zwei Nylonsäcke auf die Bank. Sie beinhalteten abgenützte Bettwäsche und ein Mini-Handtuch. Dort oben, wo man normalerweise die Koffer stapelt, lagen drei Matratzen. Also sollten die Fahrgäste selbst ihre Betten machen. Anweisungen, wie man den Tageswagen in ein Bettenlager verwandelt, gab es nicht. Da unsere Kabine den Titel „Double“ führte, verzichteten wir auf das oberste Bett, denn keine von uns beiden war ein Kletterer.

Die Toiletten entsprachen dem Modell „Direkt aufs Gleis“. Erst in der Ukraine wurden die Türen in den Bahnhöfen zugesperrt. In Österreich und in der Slowakei durfte man seine Notdurft auch mitten im Bahnhof verrichten. Das eine Ende des Waggons war hermetisch verschlossen. Es gab weder einen Durchgang zu den nächsten Wagen noch eine funktionierende Außentür. Diese waren mit Spanplatten zugenagelt, denn der Vorraum fungierte als Mülldepot. Auch im anderen Vorraum war der Durchgang zum restlichen Zug zugesperrt. Wir befanden uns in einem isolierten Waggon.

Nach der Zeichensprache des Schaffners gab es in dem Zug kein Restaurant. Ob er die Frage richtig verstand, blieb uns verborgen, denn er sprach ausschließlich Russisch. Die Reise dauert 33 Stunden, also ist man zur Selbstversorgung gezwungen. Im Prinzip hätte man sich auf den Bahnhöfen auf die Suche nach dem Speisewaggon machen können. Aber nur im Prinzip, denn die Fahrkarten waren im Besitz des Schlafwagenschaffners.

Außerdem wurde unser Wagen ständig rangiert und an einen anderen Zug angehängt. Vielleicht hätte man den falschen erwischt. Auch die Bahnhof-Geschäfte blieben außerhalb unserer Reichweite, denn es wäre schwierig gewesen, unseren „Gastwaggon“ wieder zu finden, weil seine Position ständig gewechselt wurde. Tee konnte man wenigstens vom Schaffner bekommen, verdursten musste man also nicht.

Wofür braucht man denn Kohle im Schlafwagen, wunderten wir uns, als Säcke herein getragen wurden. Die Antwort lautete: für die Heizung. Der Waggon wurde mit Kohle geheizt. Der Ofen lag in dem einzigen funktionierenden Vorraum und die Tür war offen. Der Zug rüttelte so kräftig, dass man vermeinte, auf stürmischer See zu fahren. Es bestand akute Gefahr, dass die Flammen aus dem Ofen springen oder glühende Kohle herausfallen würden. Wie hätte man sich durch den einzigen Ausgang vor dem Feuer retten können? Die Fenster in den Abteilen waren zugeschraubt und für die Fenster im Gang benötigte man einen Sonderschlüssel.

Der Zug kam pünktlich an. Uns wäre eine Verspätung lieber gewesen, denn es war 5.30 Uhr. Aber auf dem Bahnhof in Kiew war alles geöffnet. Wir konnten die Platzkarten für die Rückreise sofort besorgen. Das hätten wir lieber schon in Wien erledigt, aber die Telefonverbindung nach Kiew hatte nicht funktioniert. Der Preis war genau der gleiche wie in Wien, also dachten wir etwa die gleichen Karten gekauft zu haben – für ein Zweier-Abteil.

Als wir den Zug fünf Tage später um Mitternacht zurück nach Wien nahmen, ein Interview mit Julia Timoschenkos Stellvertreter im Gepäck, war die Überraschung perfekt, als ein betrunkener Mann in unser Abteil drängte. All unsere Proteste, dass wir ein „Double“ gekauft hätten und dass ein fremder Mann im Frauenabteil sowieso fehl am Platz sei, blieben unbeachtet. Laut Schaffner besaß er eine Karte und zwar für das unterste Bett. In der Ukraine herrscht das alte sowjetische System: in der zweiten Klasse werden die Karten bettenweise verkauft, ungeachtet des Geschlechtes. Zweier-Abteile gibt es nur in der ersten Klasse, aber der Wagen 405 Wien-Kiew hat keine erste Klasse.

Also ist es ratsam, die Platzkarten für die Rückfahrt bereits in Österreich zu besorgen. Für uns wurde aus dem Schlafen nichts. Wir saßen da, ganze 33 Stunden lang. Denn das oberste Bett blieb mangels Klettereinrichtungen außerhalb unserer Reichweite.

Die abenteuerliche Zugfahrt ließ einige Fragen offen. Entspricht der Wagen 405, der immerhin von einem Bahnhof mitten in der Bundeshauptstadt abfährt, überhaupt österreichischen Bestimmungen? Mit seinen geschlossenen Fenstern, Türen und Durchgängen, mit seinem offenen Heizofen und mit seinen Gleistoiletten?”

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