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Die zweite Gruft: Verwaltung der Verzweiflung

Manche 'Klienten' haben einen Stammplatz in der zweiten Gruft. Das nimmt den Druck jenen Menschen, sich den ganzen Tag Sorgen um Schlafplatz und Abendessen machen zu müssen.
Manche 'Klienten' haben einen Stammplatz in der zweiten Gruft. Das nimmt den Druck jenen Menschen, sich den ganzen Tag Sorgen um Schlafplatz und Abendessen machen zu müssen. ©vienna.at/Paul Frühauf
Von außen sieht die zweite Gruft in der Bernardgasse im 7. Bezirk (Neubau) nach nicht viel aus. Es fehlen Türschilder, und Klingel gibt es auch keine. Und doch ist hier die letzte Zuflucht für 62 Menschen, wenn die Nächte eisig kalt werden. 
In der zweiten Gruft
Caritas Wien

“Erstmals in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind diese Menschen während der Audimax-Besetzung 2009”, sagt Irmgard Joo, die Leiterin der zweiten Gruft. “Davor war das Problem niemanden wirklich so bewusst. Damals haben wir beschlossen, dass wir handeln müssen und haben eine erste Notschlafstelle eingerichtet.” 

Beim ‘Problem’ handelt es sich um in Wien gestrandete EU-Ausländer, aus Ländern wie Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, aber auch Polen und Ungarn. Die meisten kommen nach Österreich, weil selbst ein Einkommen aus unregelmäßiger Tagelöhner-Arbeit am sogenannten Arbeitsstrich noch immer höher ist als das, was sie in ihren Heimatländern verdienen. “200 Euro” – so Joo – “ist das Durchschnittseinkommen in Nordrumänien. 80 Euro kostet eine Wohnung kalt. Das kann sich einfach nicht ausgehen.”

Die zweite Gruft: Zuflucht für jene, die sonst nirgends hin können

Etwa 300 bis 500 solche Gestrandete gibt es in Wien. Dabei handelt es sich allerdings um eine reine Schätzung, genaue Zahlen gibt es nicht. Und sie bilden den Großteil der Obdachlosen in der Stadt. “Es gibt fast keine österreichischen Obdachlosen in Wien”, so Joo. “Der typische Wiener Sandler ist beinahe verschwunden, weil das Netz an Hilfseinrichtungen sehr dicht ist.” Doch das Netz hat Lücken. Es unterteilt in “Anspruchsberechtigte’ und ‘nicht Anspruchsberechtigte’.

In einer kalten Winternacht ist das der Unterschied, ob man es zum Beispiel in der bekannten ersten Gruft unter der Kirche Mariahilf zumindest warm hat, oder ob man, vielleicht zugedeckt mit alten Zeitungen, in einem Ladeneingang ein paar Minuten Schlaf zu finden versuchen muss. Und für genau diese Klientel wurde von der Wiener Caritas die zweite Gruft in der Bernardgasse geschaffen. 

Schlafsäcke und warme Suppe

Insgesamt gibt es in der zweiten Gruft 50 Schlafplätze für Männer und zwölf für Frauen, womit sie rund halb so groß ist wie das Vorbild in der Barnabitengasse. In kalten Nächten reicht das nicht. Vor der Öffnung der Gruft um 18 Uhr – für eine Tagesbetreuung reichen die Ressourcen nicht – bildet sich eine Schlange vor dem Eingang. Nicht wenige müssen wieder weggeschickt werden. Denn die Mitarbeiter der Gruft versuchen, so viele Menschen wie möglich unterzubringen, doch wenn die Temperaturen unter Null sinken, reicht der Platz einfach nicht. Komfort gibt es übrigens keinen. Geschlafen wird auf dem Boden, auf Isomatten und in Schlafsäcken. Einige wenige ‘Klienten’ haben einen Stammplatz, der im Jargon ‘Befristung’ heißt. Das, so die Mitarbeiter, nehme sehr viel Druck von den Betroffenen. Doch im Endeffekt könne man nur verwalten – und vielleicht ein paar wenige Menschen so gut beraten, dass sie eine bessere Zukunft jenseits der Gruft haben.  

Obdachlosigkeit ist Dauerstress

Denn zum Dauerstress und pathologischen Perspektivlosigkeit der Obdachlosigkeit – woher kommt die nächste Mahlzeit, wie geht es weiter, sehe ich meine Familie jemals wieder? – kommt auch das dauernde Nachdenken darüber, wo man die Nacht verbringen kann. Ein sicherer Platz, an den man flüchten kann, macht den Kopf für andere Gedanken frei, um vielleicht sogar eine Lösung der eigenen Misere zu finden. Die übrigens nicht einfach zu finden ist. Eine Arbeitsgenehmigung ist beinahe unmöglich zu erhalten. Sehr viele der Gruft-‘Klienten’ verdingen sich tageweise am Wiener Arbeitsstrich, verdienen vielleicht 350 Euro im Monat, von dem ein Teil nach Hause an die Familie geschickt wird. Dazu kommt die allgemeine Ablehnung von Menschen, denen man die Obdachlosigkeit ansieht. “Sieht ein Polizist jemanden, der obdachlos aussieht, wird er ihn sofort zumindest nach einem Ausweis fragen”, weiß Joo. “Und die Bevölkerung will diese Menschen auch nicht sehen. Die immer strengeren Bettelverbote dienen im Endeffekt nur dazu, sie aus dem öffentlichen Stadtbild zu verdrängen.”

Eine Nacht in der Gruft

Wie läuft so eine typische Nacht in der Gruft ab? Ab 18 Uhr wird die Tür geöffnet. Jene, die Einlass finden, bekommen warme Suppe, geliefert vom Canisius-Bus der Caritas. Dann kann geduscht werden, vielleicht neue Kleidung ausgefasst, und ein wenig ferngesehen. Um 22 Uhr ist Nachtruhe, die Schlafsäcke werden auf dem Boden verteilt, die Menschen beinahe übereinander geschlichtet. Den Nachtdienst übernehmen ein hauptamtlicher und zwei bis drei der hoch engagierten ehrenamtlichen Caritas-Mitarbeiter. Sie sorgen vor allem dafür, dass die Hausordnung eingehalten wird. Die sehr niederschwellig ist: Keine Gewalt, kein Alkohol. Hin und wieder wird doch eine Flasche hereingeschmuggelt. Die wird dann bei Entdeckung kompromisslos dem Abfluss anvertraut, so Irmgard Joo. “Aber was drin ist, das können wir nicht mehr rausnehmen, oder”, so die Gruft-Chefin. Was bedeutet: Auch Betrunkene können hier Aufnahme finden, solange sie nicht gewalttätig sind. Was, wenn man sich in den verschiedenen Einrichtungen umsieht, dafür spricht, dass hier wirklich nur jene Aufnahme finden, für die es sonst keinen Platz gibt. Um 7 Uhr ist dann Schluss. Es geht zurück auf die Straße, und für die Belegschaft der Gruft beginnt die Planung einer neuen Nacht. 

Luxus und Überlebensfragen in der Gruft

Doch wie kommt es zu Schicksalen, die auf den Straßen von Wien enden? Abgesehen von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Westen ganz verschiedene. Sehr oft handelt es sich jedoch um totale Perspektivlosigkeit in den Heimatländern. Wenn mit dem Einkommen aus einem Vollzeitjob kein Auslangen gefunden werden kann, dann beginnen die Menschen, über andere Länder nachzudenken. “Für uns ist das eine Luxusfrage”, so Irmgard Joo. “Wandern wir aus, weil uns das Klima hier nicht zusagt? Für diese Menschen ist es eine Existenzfrage.” Von einer Ausnutzung der Sozialsysteme kann übrigens keine Rede sein, egal, wie sehr manche Parteien gerade noch innerhalb des demokratrischen Bogens darauf trommeln: Diese Menschen haben keinerlei Ansprüche. Auch die zweite Gruft hat keine Rechtsgrundlage und wird daher ausschließlich durch Spenden finanziert. Die Beratung, die tagsüber stattfindet, übernimmt der Fonds Soziales Wien

Einen eklatanten Unterschied gibt es übrigens zwischen männlicher und weiblicher Obdachlosigkeit. Frauen sind viel öfter Opfer sogenannter versteckter Obdachlosigkeit oder ‘prekärer Wohnverhältnisse’. Was so viel bedeutet wie, eine Frau aus dem Osten lernt hier einen Mann kennen, schlüpft vielleicht für einige Tage bei ihm unter und steht dann erst recht wieder auf der Straße. Aus diesem Grund, und weil mit diesen ‘Wohngelegenheiten’ oft auch schwere Misshandlungen einher gehen, sind psychische Störungen bei obdachlosen Frauen weiter verbreitet als bei Männern. Doch die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt bei beiden Geschlechtern allgemein immer weiter zu. Und genau dort stoßen auch die engagiertesten Gruft-Helfer an ihre Grenzen und müssen aufgeben. Und doch sind Obdachlosigkeit und psychische Erkrankungen beinahe untrennbar miteinander verbunden. So sagt die Tübinger Psychologin Katja Salkow in einem Interview mit der deutschen Zeit

Wir vermuten, dass psychische Probleme in vielen Fällen einer der Gründe für die Obdachlosigkeit sind. Ich habe in unseren Daten auch Hinweise darauf gefunden, dass bestimmte Persönlichkeitszüge eine Rolle spielen: So hatten die Wohnungslosen in der Nachuntersuchung etwa viermal so häufig eine Persönlichkeitsstörung wie Personen mit festem Wohnsitz. (Die Zeit, Online-Ausgabe, 26. August 2007)

Ein Schlafplatz in der Gruft ist nicht das Ende

Die Beratung dreht sich vor allem um eines: Macht es Sinn, in Österreich ohne Perspektive weiterzumachen, oder ist eine Heimkehr sinnvoller? Laut einer Umfrage, was sich obdachlose EU-Bürger in Wien am meisten wünschen, stehen Punkte, die sich interessanter Weise mit populistischer Anti-Ausländer-Polemik decken: Am liebsten wäre diesen Menschen ein Job, von dem man leben kann – und zwar zuhause. Trotz des etwas zynisch anmutenden Namens muss weder die erste noch die zweite Gruft das Ende sein. Wie in den meisten sozialen Einrichtungen versuchen die Betreiber alles, um ihre ‘Klienten’ so schnell wie möglich loszuwerden – und zwar in ein besseres Leben. Eines, in der man keine Gruft mehr braucht. 

 

Die Arbeit der Caritas ist nur durch Spenden und die ehrenamtliche Mitarbeit von vielen Freiwilligen möglich. Dabei gibt es viele verschieden Bereiche, in denen Ehrenamtliche für das Gemeinwohl arbeiten können. Online-Spenden und alle Informationen zur Mitarbeit sind auf der Homepage der Caritas Wien verfügbar! 

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