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Der Atomkeller von Haigerloch

Als die Messgeräte bei dem Versuch Anfang April 1945 eine steigende Neutronenvermehrung anzeigen, wird den deutschen Wissenschaftlern im Bierkeller mulmig zumute. - Wie deutsche Wissenschaftler die Atomkraft erforschten.

Sie wissen nicht, wie eine unkontrollierte Atomkettenreaktion zu stoppen wäre. Auch Sicherheitsvorkehrungen haben sie in der künstlichen Felshöhle in Haigerloch bei Tübingen so gut wie keine getroffen. Doch dann gibt es einen Knick in der Kurve, die Reaktion kommt nicht zustande. Das Physikerteam um Werner Heisenberg und Karl Wirtz atmet auf – und ist gleichzeitig schwer enttäuscht. Ihr Ziel, den ersten Atommeiler der Welt zu bauen, ist fehlgeschlagen.

In britischer Gefangenschaft können es die Wissenschaftler später kaum fassen, als sie am Abend des 6. August von der US-Zündung einer Atombombe über der japanischen Stadt Hiroschima hören. Einige Zeit danach erfahren Heisenberg und seine Mannschaft auch noch, dass es Enrico Fermi in Chicago schon 1943 gelang, den ersten Kernreaktor der Welt in Betrieb zu nehmen. Wegen des Kriegs hatten amerikanische und deutsche Atomphysiker völlig getrennt voneinander gearbeitet – unter größter Geheimhaltung. Ein große Gruppe um Robert Oppenheimer entwickelte in der Wüste von New Mexico die Bombe, während die Experimente der Deutschen kurz vor Kriegsende im Bierkeller endeten.

Im Haigerlocher Felsenkeller hängten die Forscher – wie heute noch zu sehen – 644 knapp fingerlange schwarze Uranwürfel an Drähten in ein drei Meter breites Becken, in das sie schweres Wasser als Bremssubstanz pumpten. „Sie hätten mindestens die anderthalbfache Menge gebraucht, die war aber wegen des Krieges nicht mehr zu beschaffen“, sagt Egidius Fechter, Kulturamtsleiter von Haigerloch. In dem ursprünglich von Bahntunnelbauern für den Schwanenwirt gebohrtem Keller hat die Stadt ein Museum eingerichtet, zu dem auch ein Nachbau des „B 8“-Versuchsmeilers gehört.

Die Forscher um Heisenberg wollten nach eigenen Angaben nur eine „Uran-Kraftmaschine“ entwickeln. „Die Atombombe stand nicht auf dem Programm“, betonte der beteiligte Wirtz nach dem Krieg. Wahrscheinlich hätten aber wohl auch die Nazis die Bombe eingesetzt, wenn sie – aufbauend auf den Experimenten in Haigerloch und denen von Otto Hahn im nahe gelegenen Tailfingen – technisch machbar geworden wäre.

Während die Nazis die Atomtechnik von 1942 an als „nicht kriegsentscheidend“ einstuften, lebten die Amerikaner in steter Angst, die Deutschen könnten doch schneller sein. 1944 bildeten sie eine Spezialeinheit mit dem Auftrag, Heisenberg und seine Kollegen festzunehmen, was ihnen im April 1945 auch gelang.

Für die Forscher vom Kaiser-Wilhelm-Institut, dem Vorläufer der Max-Planck-Gesellschaft, waren die letzten Monate vor Kriegsende wohl idyllischer als an ihrer vorherigen Arbeitsstätte Berlin. Von Heisenberg wird erzählt, dass er es genoss, zwischen Haigerloch und den im 15 Kilometer entfernten Hechingen eingerichteten „Denkzellen“ mit dem Fahrrad hin und her zu fahren. Die Haigerlocher selbst bekamen kaum mit, welche berühmten Wissenschaftler in ihrem Ort weilten.

Ein mit dem Atomexperiment verbundener Schrecken für sie kam erst nach dem Krieg. Damit niemand – besonders die Russen nicht – etwas von den Versuchen mitbekommen sollte, wollten die Amerikaner den Atomkeller sprengen. Dem Haigerlocher Stadtpfarrer gelang es jedoch, die US-Offiziere von dem Vorhaben abzubringen: Er begeisterte sie für die barocke Schlosskirche, die auf dem Felsen genau über dem Felsenkeller steht. Die Amerikaner zerstörten daraufhin nur das Innere des Labors und gruben, bevor sie sich davon machten, die 664 Uranwürfel aus einem Kartoffelacker aus. Einer davon kehrte vor fünf Jahren in den Atomkeller zurück und ist seitdem in einer gesicherten Vitrine ausgestellt.

www.haigerloch.de/stadt/atomkeller.html

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