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Das Wendy-Syndrom: Leiden, masturbieren und killen bei den Wiener Festwochen

Umjubelt war das Stück vor allem von jenen, die zweieinhalb Stunden aushielten.
Umjubelt war das Stück vor allem von jenen, die zweieinhalb Stunden aushielten. ©Nurith Wagner-Strauss
Frei nach Peter Pan steht das "Wendy-Syndrom" in der Psychologie für Frauen, die Beziehungen mit Männern führen, die nicht erwachsen werden wollen. Dieses Verhalten, das mit starker Abhängigkeit und Bemutterung des Partners einher geht, ist die Basis für die neue Theaterarbeit der spanischen Autorin und Performancekünstlerin Angelica Liddell: Unter dem Titel "Todo el cielo sobre la tierra (El sindrome de Wendy)" feierte die Auftragsarbeit der Wiener Festwochen am Donnerstag in der Halle G des Museumsquartiers ihre umjubelte Uraufführung.
Matter Auftakt
Eröffnung mit Wienerliedern
Umstrittenes Jesus-Stück
Das Wendy-Syndrom - Szenenbilder

“Der ganze Himmel über der Erde (Das Wendy-Syndrom)” bildet den Auftakt des Schauspielprogramms der Wiener Festwochen, die am heutigen Freitagabend offiziell eröffnet werden. Wie bereits im Vorjahr, als Liddell mit ihrer fünfstündigen, feministischen Leidensperformance “La Casa de la Fuerza” (Haus der Gewalt) den Abschluss der Festwochen bestritt, steht auch diesmal das subjektive Leiden der Frau im Zentrum des Abends, der über weite Strecken von einem existenziell an der Schmerzgrenze der Erträglichkeit schrammenden Monolog Liddells dominiert wurde.

Beklemmende Masturbationsszene im Stück

Der zweite inhaltliche Ankerpunkt der Performance, nämlich die Integration eines 70-jährigen Tänzerpaares aus Shanghai, das seine Darbietungen zu eigens von Cho Young Wuk komponierten Walzern präsentierte, entzog sich allerdings der Logik des Abends. Wendy, die zu Beginn des Stücks mit einer minutenlangen, beklemmenden Masturbationsszene auf dem in der Mitte der Bühne aufgeschütteten Erdhaufen ihre Verzweiflung demonstriert, flüchtet vor der Durchschnittlichkeit ihrer Mitmenschen nach Shanghai, um in der Fremde der Einsamkeit zu huldigen. Dort fand Liddell denn auch im echten Leben jene Walzertänzer, die dort die Straßen bevölkern, und lud sie nach Wien ein. Deren naive Leidenschaftlichkeit rief im Publikum nicht zuletzt aufgrund des starken Kontrasts zum restlichen Abend jedoch eher Kopfschütteln und peinlich berührte Lacher hervor.

Kritik an Stück zum Wendy-Syndrom

Die Insel “Neverland”, die von Peter Pan, seinen Buben und eben auch Wendy bevölkert wird, wurde im Laufe des Abends auch mit einer anderen Insel in Verbindung gebracht: Die norwegische Insel Utöya, wo Anders Behring Breivik im Sommer 2011 69 Jugendliche ermordete, muss in “Todo el cielo…” für eine schräge Analogie herhalten. Der Attentäter leide, so Liddell laut Programmheft, am “Peter-Pan-Syndrom”, das Männer beschreibt, die für immer Kinder bleiben wollen und keine Verantwortung übernehmen. In dem Täter sieht Liddell den “radikalstmöglichen Peter Pan, der in seinem Neid und Hass auf alles Jüngere diese Tat beging.”

Und hier liegt auch das Problem dieses eigentlich in seiner Eindringlichkeit und Ästhetik des Hässlichen überzeugenden Abends: Weibliche Selbstaufgabe, exzessives Masturbieren, chinesische Walzertänzer und unfassbare Attentate – das hat bei Licht betrachtet wenig miteinander zu tun. Und so laufen die (in atemberaubendem Tempo vorgetragenen und daher in den deutschen Übertiteln kaum mitzuverfolgenden) Textfäden, die all das zusammenhalten sollen, nicht selten ins Leere.

Berührende Themen bei Festwochen

So ausdrucksstark die in Shanghai spielenden Szenen von einer abgehalfterten Wendy, die sich mit allerlei irrwitzigen Gestalten umgibt, auch sein mögen, sie fügen sich nicht wirklich in jenen Monolog ein, der einen Großteil des Abends bestimmt, wenn Liddell allein auf der Bühne steht und sich ausgiebig über den “Dignitätszuschlag” von gebärenden Frauen auslässt, bildstark von Internet-Chats mit Perversen erzählt oder die befreiende Wirkung von ausgiebiger Selbstbefriedigung anpreist. Einsamkeit, die Angst vor dem Verlassenwerden, das Festhalten an den Idealen der Kindheit: Liddells Themen berühren tief. Der Versuch eines erzählerischen Überbaus gelingt jedoch leider nur bedingt.

Weitere Aufführungen gibt es am 10., 11. und 12. Mai jeweils um 20.30 Uhr.(APA)

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