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D: Breiter Konsens für Neuwahlen

Alle großen deutschen Parteien haben am Montag nach der rot-grünen Schlappe in Nordrhein-Westfalenihre Bereitschaft zu einer vorgezogenen Bundestagswahl in Deutschland im Herbst signalisiert.

Die SPD kündigte an, der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder wolle spätestens bis 1. Juli die Vertrauensfrage stellen. Wenn Schröder dann im Bundestag keine Mehrheit erhält, kann der deutsche Bundespräsident Horst Köhler innerhalb von 21 Tagen das Parlament auflösen; eine Bundestagswahl müsste dann 60 Tage später stattfinden.

Der Termin für die vorgezogene Wahl könnte damit rechnerisch Mitte September sein. Im SPD-Präsidium, aber auch bei der CDU wurden nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) der 11. oder 18. September für realistisch gehalten. Schröder wollte am Montagnachmittag mit Köhler das weitere Vorgehen besprechen. Nach Angaben seines Sprechers will der deutsche Kanzler in den nächsten Tagen auch mit den anderen Parteien beraten.

Das SPD-Präsidium entschied einstimmig, eine vorgezogene Bundestagswahl anzustreben. Regulär würde der Bundestag erst im Herbst 2006 neu gewählt. SPD-Chef Franz Müntefering sagte nach der Sitzung, die schwere Niederlage seiner Partei bei der Landtagswahl im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen vom Sonntag mache „klare Entscheidungen“ notwendig. Der Bundestags-Wahlkampf werde um den „sozialen Fortschritt“ geführt. Zugleich solle der Weg fortgesetzt werden, den Schröder mit seiner Reform-„Agenda 2010“ zum Umbau des Sozialstaates eingeschlagen habe. Kritik am Neuwahl-Vorstoß Schröders kam jedoch vom linken Flügel der SPD.

Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel begrüßte die Entscheidung für eine vorgezogene Wahl. Nach Beratungen ihrer Parteiführung hob sie hervor, dass sich damit die Möglichkeit biete, Rot-Grün schneller auch auf Bundesebene abzulösen. Die CDU werde den Menschen zeigen, dass sie Deutschlands Probleme besser lösen könne. Die Union richtet sich auf einen Lagerwahlkampf mit der FDP als Koalitionspartner ein. Als Schwerpunkte nannte Merkel das Schaffen von Arbeit und Wachstum.

Über den Kanzlerkandidaten der Union werde bei einer gemeinsamen Sitzung von CDU und CSU am kommenden Montag entschieden, sagte Merkel. In München deutete der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos, an, dass Parteichef Edmund Stoiber bei einem Wahlsieg der Union in die Bundesregierung wechseln werde. Stoiber war bei der Bundestagswahl 2002 als Herausforderer Schröders knapp gescheitert. Der CSU-Chef kündigte am Montag bis Ende Juli die Verabschiedung eines gemeinsamen Regierungsprogramms von CDU und CSU an.

Die Grünen setzen für eine vorgezogene Wahl auf eine Schärfung ihres Profils und eine Richtungsentscheidung zwischen zwei politischen Lagern. „Wir werden deutlich machen, was sozial- ökologische Erneuerung heißt“, sagte Co-Parteichefin Claudia Roth. Der Parteirat der Grünen, die jetzt nur noch im Bund in Regierungs-Verantwortung stehen, beschloss am Montag einstimmig, mit Außenminister Joschka Fischer als Spitzenkandidat in den Wahlkampf zu ziehen.

Der FDP-Bundesvorstand beschloss am Montag eine Koalitionsaussage zu Gunsten der Unionsparteien. „Wir setzen ganz klar auf Schwarz-Gelb statt Rot-Grün“, sagte der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle, dessen Partei sich bestens für eine vorgezogene Bundestagswahl vorbereitet sieht. Westerwelle wurde beauftragt, mit Merkel und Stoiber Gespräche zu führen. Ziel sei eine wechselseitige Koalitionsaussage.

Auch bei Wirtschaft, Gewerkschaften und Verbänden stieß die Neuwahl-Ankündigung auf breite Zustimmung. „Unser Land kann sich eine längere Stagnation nicht leisten. Daher ist das Vorziehen der Bundestagswahl eine richtige Entscheidung“, erklärte der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann. Auch der Vorsitzende der IG Bergbau-Chemie-Energie (BCE), Hubertus Schmoldt, sprach von der einzig richtigen Entscheidung: „Die Bürger müssen nun für das Land grundsätzlich entscheiden, welchen Kurs sie wollen.“

Wirtschaft reagiert positiv

Wirtschaftsverbände, Forschungsinstitute und Unternehmen haben die Pläne für vorgezogene Bundestagswahlen in Deutschland nahezu einhellig als richtigen und konsequenten Schritt bezeichnet. „Wir benötigen Klarheit über den zukünftigen Reformkurs in Deutschland“, sagte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, am Montag.

Auch die Börse reagierte überwiegend positiv. Die Energiekonzerne gehörten zu den größten Gewinnern, weil von einer unionsgeführten Bundesregierung möglicherweise der Atomausstieg aufgekündigt werden könnte.

Zustimmung für Neuwahlen gab es vom Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und vom Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE). „Wir brauchen ein klares Votum für weitere und schnellere Reformen“, sagte BDI-Präsident Jürgen Thumann. Nach Einschätzung der Konjunkturexperten der HypoVereinsbank könnten die angekündigten Neuwahlen den Reformprozess in Deutschland wieder in Schwung bringen.

„Die Neuwahl ist eine Richtungsentscheidung. Sie kann die nötige Aufbruchsstimmung erzeugen, damit Deutschland wieder nach vorn kommt“, sagte HDE-Präsident Hermann Franzen. Aus Sicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) könne eine Neuwahl ein „Befreiungsschlag“ für die Wirtschaft sein. Wenn die Wahl regulär 2006 stattfinde, würden sich Regierung und Bundesratsmehrheit weiter gegenseitig blockieren, sagte DIW-Präsident Klaus Zimmermann.

„Die Konsumenten und die Investoren brauchen ein klares Bild darüber, wie es weiter geht“, sagte der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Dennis Snower. „Wenn die Bevölkerung sehen würde, hier gibt es ein Erfolg versprechendes Programm, dann würde sich die Binnennachfrage wieder verbessern und dann könnte es aufwärts gehen.“ Ein solches Programm müssten auch CDU/CSU erst noch vorlegen.

Entscheidend für die Stromwirtschaft in Deutschland sei langfristige Planungssicherheit, hieß es vom Verband der Elektrizitätswirtschaft (VDEW). In den nächsten Jahren stehe die Branche vor milliardenschweren Investitionen in Netze und Kraftwerke. Umso wichtiger sei es zu wissen, wohin die Reise gehe. In der Frage des Atomausstiegs erwarte der Verband aber keine Änderungen.

Der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), Bernd Gottschalk, sagte, der Standort Deutschland brauche eine klare Perspektive und eine konsequente Fortführung der Erneuerung und der Reformen: „Deshalb ist die Entscheidung, Neuwahlen im Herbst herbeizuführen, als Chance zu begreifen.“

Der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA), Anton Börner, sagte, die „Kapitalismus-Polemik“ der SPD habe beim Wähler in Nordrhein-Westfalen nicht verfangen. „Die SPD muss sich nun entscheiden: Klassenkampf oder Marktwirtschaft.“

Der Banken- und Börsen-Experte Professor Wolfgang Gerke erwartet von der geplanten vorgezogenen Bundestagswahl eine „massive Änderung der Stimmung im Land“. Insbesondere Börse und Wirtschaft verbänden damit die Hoffnung auf eine berechenbare Politik, sagte der Nürnberger Hochschullehrer am Montag in einem dpa-Gespräch.

Zustimmung gab es auch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Das Vorziehen der Bundestagswahl heißt, dass wir die Phase des wirtschaftspolitischen Stillstandes um ein Jahr verkürzen – und zwar auch unabhängig von der dann in Berlin regierenden Koalition“, sagte IW-Präsident Michael Hüther.

„Jede Entscheidung ist gut, die Deutschland eine Situation der politischen Lethargie erspart und die wirtschaftliche Stagnation auflöst. Vorgezogene Bundestagswahlen können der richtige Schritt sein, wenn alle Seiten dies wollen“, sagte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Otto Kentzler.

„Die angestrebten Neuwahlen sind unbeschadet verfassungsrechtlicher Fragen ein konsequenter Schritt zur Klärung der politischen Verhältnisse in Deutschland“, erklärte der Versicherungskonzern Allianz in München.

„Für uns ist nicht die entscheidende Frage, wer es macht, sondern dass es gemacht wird“, sagte ein Sprecher von Deutschlands größtem Handelskonzern Metro in Düsseldorf.

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