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Afghanistan: Taliban starteten Angriff auf Kabul

Taliban: Die afghanische Regierung hat die vorletzte Großstadt kampflos verloren.
Taliban: Die afghanische Regierung hat die vorletzte Großstadt kampflos verloren. ©APA/AFP/
In Afghanistan haben die Taliban nach Angaben des Innenministeriums den Angriff auf die Hauptstadt Kabul gestartet.

Die Islamisten stießen von allen Seiten vor, teilte das afghanische Ministerium am Sonntag mit. Die Taliban-Führung erklärte in Doha, dass allen Menschen, die Kabul verlassen wollten, ein sicherer Abzug gewährt werde. Die Taliban-Kämpfer seien angewiesen, Gewaltanwendung zu vermeiden. Frauen sollten sich an geschützte Orte begeben.

Ein NATO-Vertreter sagte, dass mehrere EU-Mitarbeiter an einen sicheren Ort in Kabul gebracht worden seien. Nur wenige Stunden zuvor hatten die Taliban mit Jalalabad auch die vorletzte große afghanische Stadt erobert.

Innenminister kündigt "friedliche Machtübergabe" an

Die afghanische Regierung hat angesichts der bis an den Stadtrand der Hauptstadt Kabul vorgerückten Taliban eine "friedliche Machtübergabe" angekündigt. "Es wird keinen Angriff auf die Stadt geben", sagte Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal am Sonntag in einer aufgezeichneten Ansprache. Demnach soll eine "Übergangsregierung" gebildet werden.

Zuvor hatte das Innenministerium berichtet, dass die Taliban bereits mit dem Angriff auf Kabul begonnen hätten. Die Sicherheit der Hauptstadt sei garantiert, sagte der Innenminister. Mirsakwal rief die Menschen dazu auf, keiner Propaganda anheimzufallen. "Die Leute brauchen sich keine Sorgen zu machen, die Stadt ist sicher", erklärte er. Jeder, der Unordnung in der Stadt verursache, werde in Übereinstimmung mit dem Gesetz behandelt.

Kurz zuvor hatte der Taliban-Sprecher Sabiullah Mujahid der BBC gesagt, er könne bestätigen, dass es Gespräche mit dem Präsidentenpalast über eine friedliche Machtübernahme gebe. Der Leiter des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, organisiere diese.

Auch der Verteidigungsminister Bismillah Chan Mohammadi erklärte in einer auf Facebook veröffentlichten Videoansprache, er als Vertreter der Streitkräfte garantiere die Sicherheit Kabuls. Die Menschen sollten nicht in Panik verfallen. Es sei bekannt, dass sich der Präsident Ashraf Ghani mit heimischen Politikern getroffen habe und ihnen die Verantwortung übertragen habe, eine autoritative Delegation aufzustellen, die am Montag nach Doha reisen solle, um mit den Taliban eine Einigung über die Afghanistan-Frage zu erzielen. Die Sicherheit von Kabul werde aufrechterhalten, bis eine Einigung erzielt wird, sagte er.

Russland kündigte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates zur Lage in Afghanistan an. "Wir arbeiten daran", sagte ein Vertreter des Außenministeriums laut russischen Nachrichtenagenturen.

Auch Jalalabad ist unter Kontrolle der Taliban

In Afghanistan haben die radikal-islamischen Taliban mit Jalalabad auch die vorletzte große Stadt erobert. Die Extremisten rückten nach Angaben eines Behördenvertreters am Sonntag kampflos in die Hauptstadt der östlichen Provinz Nangarhar ein. Erst am Samstag hatten sie offenbar ebenfalls ohne großen Widerstand Mazar-i-Sharif eingenommen. Die Regierung kontrolliert nun kaum mehr als die Hauptstadt Kabul. Dort begannen die USA mit der Evakuierung ihrer Botschaft.

Die Islamisten seien um 6.00 Uhr morgens (Ortszeit) nach Jalalabad, eine wirtschaftlich wichtige Stadt mit 280.000 Einwohnern, eingedrungen, sagte ein Bewohner. Sie würden niemanden belästigen und hätten den Menschen gesagt, sie sollten nicht stehlen. Soldaten, die sie sähen, entwaffneten sie und schickten sie nach Hause, sagte der Bewohner weiter.

Zwei Provinzräte erklärten, es habe keine Kämpfe gegeben. "Kämpfen wäre sinnlos gewesen." In sozialen Medien geteilte Bilder zeigten rund ein Dutzend Taliban-Kämpfer im Büro des Provinzgouverneurs. Noch unbestätigten Berichten zufolge übernahmen die Islamisten auch weitere Bezirke in der Provinz Nangarhar. Es wäre damit nur eine Frage der Zeit, bis auch eine durch die Provinz verlaufende Hauptverbindung nach Pakistan über Land unter ihrer Kontrolle stünde.

Taliban-Kämpfer rücken ohne große Gegenwehr vor

Am Samstag waren die Taliban-Kämpfer praktisch ohne Gegenwehr nach Mazar-i-Scharif eingerückt, wie regionale Regierungsvertreter mitteilten. Die Sicherheitskräfte seien etwa 80 Kilometer nördlich ins benachbarte Usbekistan geflohen. Auch zwei einflussreiche Milizenführer, die die Regierung unterstützen - Atta Mohammad Noor und Abdul Rashid Dostum - sind geflohen. Noor erklärte in den sozialen Medien, dass die Taliban aufgrund einer "Verschwörung" die Kontrolle über die Provinz Balkh und ihre Hauptstadt Mazar-i-Scharif erlangt hätten.

Immer mehr Flüchtlinge in Kabul

In Kabul trafen immer mehr Flüchtlinge ein. Krankenhäuser mühten sich um die Versorgung zahlreicher Verletzter. Vor den Toren der Botschaften standen ganze Familien. In der Innenstadt versuchten sich viele Menschen mit Vorräten einzudecken. Hunderte Menschen übernachteten zusammengekauert in Zelten oder im Freien an Straßenrändern oder auf Parkplätzen, wie ein Bewohner berichtete. "Man kann die Angst in ihren Gesichtern sehen", sagte er. Die Taliban werteten in einer Erklärung ihr rasches Vordringen als Beleg für ihre Akzeptanz in der Bevölkerung. Niemand müsse um sein Leben fürchten, auch Ausländer hätten nichts zu befürchten.

Der Ring um die Hauptstadt Kabul ist somit mehr oder weniger zugezogen. Präsident Ashraf Ghani hatte am Samstag Sami Sadat, den jungen, ehemaligen Kommandanten des 215. Armeekorps zuständig für den Süden Afghanistans - der mittlerweile praktisch vollständig Taliban-Gebiet ist - zum neuen Sicherheitsbeauftragten für die Stadt Kabul ernannt.

Es ist fraglich, ob der neue Kabul-Beauftragte Sadat noch groß dazu kommen wird, die Kräfte und Verteidigungslinien für die Hauptstadt zu verstärken. Es ist nicht bekannt, wie viele der auf dem Papier rund 300.000 Mann starken Sicherheitskräfte - Armee und Polizei - mittlerweile den Dienst quittiert haben. Am Samstag hatte Ghani in einer Fernsehansprache gesagt, die Sicherheitskräfte "remobilisieren" zu wollen.

Nach den jüngsten kampflosen Übergaben mehrerer Provinzhauptstädte ist zudem unklar, ob die Sicherheitskräfte in Kabul sich den Taliban widersetzen würden. Weiter ist offen, wie lange sich Ghani angesichts der brisanten Lage noch halten kann. Er hatte am Samstag gesagt, er wolle "bald" einen Plan vorlegen, um weiteres Blutvergießen und Zerstörung zu verhindern. Auf Spekulationen über seinen Rücktritt war er nicht eingegangen.

USA stockte Truppen auf

US-Präsident Joe Biden warnte die Extremisten vor Übergriffen auf Amerikaner. Seine Regierung habe Taliban-Vertretern in Katar mitgeteilt, dass jede Aktion, die US-Bürger und -Soldaten in Gefahr bringe, "mit einer schnellen und starken militärischen Reaktion der USA beantwortet werden wird". Das Verteidigungsministerium stockte die Truppen zur Evakuierung von 3.000 auf 5.000 Soldaten auf. Sie sollen dabei helfen, Botschaftspersonal und einheimische Ortskräfte auszufliegen. Die US-Botschaft begann am Sonntag mit der Evakuierung. Erste Mitarbeiter hätten die Botschaft verlassen, der Großteil des Personals sei zum Abzug bereit, teilten US-Vertreter mit.

Auch die deutsche Regierung bereitet unter Hochdruck eine von der Bundeswehr abgesicherte Evakuierungsaktion in der Hauptstadt Kabul vor. Deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sollen zu Wochenbeginn schnell außer Landes gebracht werden.

Außenminister Heiko Maas sagte der "Bild am Sonntag", dass nun die zügige Evakuierung deutscher Diplomaten und anderer Mitarbeiter das Wichtigste sei. "Wir werden nicht riskieren, dass unsere Leute den Taliban in die Hände fallen. Wir sind für alle Szenarien vorbereitet."

Nach Informationen der Zeitung fliegt die Luftwaffe schon an diesem Montag mit Militärtransportern vom Typ A400M nach Kabul. Voraussichtlich werde es im usbekischen Taschkent Zwischenlandungen geben. Für die Passagiere soll es dann laut "BamS" mit Chartermaschinen weiter nach Deutschland gehen.

Die Taliban waren seit dem Abzug der internationalen Truppen nach 20-jährigem Einsatz in Afghanistan zuletzt immer schneller vorgerückt und bis vor die Tore Kabuls vorgestoßen. Noch in der vergangenen Woche hieß es in einer Einschätzung des US-Geheimdienstes, dass die Hauptstadt noch mindestens drei Monate lang standhalten könnte. Die Taliban hatten in Afghanistan bereits von 1996 bis zu ihrem Sturz durch die US-geführten Truppen Ende 2001 geherrscht und eine sehr strenge Auslegung des islamischen Rechts durchgesetzt.

(APA/Red)

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