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Wiener Festwochen: Eine Welt offenbart sich am Esstisch

Wiener Festwochen zeigen die Welt am Esstisch
Wiener Festwochen zeigen die Welt am Esstisch ©Gianmarco Bresadola
Eine Familie trifft sich zum Abendessen und ein Publikum schaut zu: An vier historischen Tagen setzt der US-Dramatiker Richard Nelson "The Apple Family Plays" an, und erzählt in vier eigenständigen Stücken anhand kleiner Familienkrisen von der großen Verunsicherung des liberalen Amerikas. Am Dienstag, den 19. Mai, hatte mit "That Hopey Changey Thing" Teil Eins bei den Wiener Festwochen Premiere.

Von drei Seiten richten sich die Zuschauerränge in der Halle G des MuseumsQuartiers auf den reichlich gedeckten Esstisch, um den sich nach und nach die Apples versammeln. Weniger als Theaterbesucher denn als zufälliger Zeuge eines seltenen Familienessens fühlt man sich da, wird doch in weiterer Folge weder auf Hör- noch Sichteinschränkungen Rücksicht genommen. Es wird gegessen und getrunken, diskutiert und geschlichtet, über große und kleine Themen sinniert.

“The Apple Family Plays”: Die Welt am Esstisch

Schauplatz ist Rhinebeck bei New York, am 2. November 2010. Die Familie ist beunruhigt, leidet Onkel Benjamin, einst ein angesehener Theaterschauspieler, doch seit einem Herzinfarkt an Amnesie. Von den drei Nichten Jane, Barbara und Mariann und seinem Neffen Richard verhätschelt, lockt nur Janes neuer Freund Tim, selbst strauchelnder Mime, Anekdoten und Lebensweisheiten aus seinem Idol heraus: Er sei viel freier und einfacher ohne ihn einschränkende Erinnerungen, sagt Benjamin. “Als Schauspieler, meinst du?”, fragt Jane, und erhält keine Antwort.

“Midterm Elections”

Auch von außen wird am Familiengefüge gekratzt. Der 2. November 2010 ist der Tag der “Midterm Elections” – jenen Wahlen zur Halbzeit der vierjährigen Amtszeit des Präsidenten, die nicht zuletzt als Stimmungsbild der aktuellen Regierungspolitik gelten. Die große Wahlniederlage der Demokraten zeichnet sich bereits am Esstisch ab: Die Apples sind überzeugte Demokraten, aber sichtlich unzufrieden mit Barack Obama.

Von Macht gelenkten Republikanern und religiösen Fanatikern

Soweit, ihren Präsidenten zu kritisieren, gehen sie aber nicht. Zu sicher ist es, ein gemeinsames Feindbild aufrechtzuerhalten: von Reichtum und Macht gelenkte Republikaner, religiöse Fanatiker und beschränkte, übergewichtige Südstaatenwähler, etwa. Dementsprechend skandalös ist die Ankündigung Richards, künftig als Anwalt für einen Republikaner zu arbeiten – oder das Geständnis seiner Schwester Jane, diesmal nicht gewählt zu haben. Was, wenn die unsägliche Sarah Palin nur ein Produkt unserer Vorverurteilungen ist, stellt Richard in den Raum. Was, wenn “die” zwar am bösesten, “wir” aber auch böse sind?

“That Hopey Changey Thing”

Auch der Titel des Abends beruht auf Palin, verniedlichte die doch Obamas “Hope and Change”-Wahlkampfspruch zu “That Hopey Changey Thing”. Wenige Jahre später scheint auch nicht mehr als das übrig: Der geistige Verfall des einst strahlenden Dreh- und Angelpunkts einer vaterlosen, von Geheimnissen geplagten Familie steht hier auch für erschütterte Hoffnungen in einen großen Demokraten; die Krise innerhalb der Familie für eine tief greifende Unsicherheit des liberalen Amerikas.

“Selten ist ein Theaterstück derart aktuell”

Richard Nelson ließ seine vier stets nach dem selben Prinzip ablaufenden, die jüngere Zeitgeschichte behandelnden Stücke an jenen vier Tagen am New Yorker Public Theater uraufführen, an denen sie sich abspielen: “That Hopey Changey Thing” am 2. November 2010, “Sweet and Sad” im Folgejahr am zehnten Jahrestag des 11. September 2001, “Sorry” am 6. November 2012, dem Tag der Wiederwahl Barack Obamas und “Regular Singing” am 22. November 2013, dem 50. Jahrestag der Ermordung von JFK. Selten ist ein Theaterstück derart aktuell, hört man Protagonisten über einen noch amtierenden Präsidenten streiten und entsteht so ein glaubwürdiges, aktuelles Stimmungsbild abseits üblicher Meinungsmacher.

Eine berührende und authentische Familiengeschichte

In Wien geht die politische Ebene mitunter verloren, zu fremd sind einem das politische System, im Glossar erläuterte Begriffe und Kandidaten. Als berührende, authentische Familiengeschichte funktioniert “The Apple Family Plays” aber voll und ganz. Das ist auch einem zusammengeschweißten, trotz ungemein viel Textes stets im Fluss scheinenden Ensembles zu verdanken: Jay O. Sanders als um die Ideologie seiner Arbeitgeber keinen Hehl machender Anwalt, Maryann Plunkett (seine Ehefrau im realen Leben) als harmoniesüchtige Barbara, Mariann Mayberry als durch einen schweren Verlust desillusionierte Beamtin, Sally Murphy als amerikanische Umgangsformen und damit auch die eigene Familie analysierende Sozialpsychologin, Jesse Pennington als die Familie aufmischender Außenstehender und – allen voran – Jon DeVries als herzergreifender, durch lapidare, verwirrte Aussagen für Lacher sorgender Ersatzvater.

“Eine Welt offenbart sich am Esstisch”

Sie alle zeigen im Laufe des kurzweiligen, eineinhalbstündigen Abends verschiedene Facetten und lassen unterhaltsam hinter die von höflichen Umgangsformen errichtete Fassade einer sympathischen, liberalen Mittelschichtfamilie blicken. “Eine Welt offenbart sich am Esstisch”, beschließt Richard den Abend süffisant. Und macht neugierig auf weitere Offenbarungen.

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