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Wie der Brexit die EU verändert

Auswirkungen auf diplomatisches und militärisches Gewicht
Auswirkungen auf diplomatisches und militärisches Gewicht ©AP
Die Auswirkungen des EU-Austritts dürften für Großbritannien in vielen Bereichen enorm sein. Aber auch die Union selbst muss sich auf Veränderungen einstellen, nachdem Premierministerin Theresa May am Mittwoch den Austrittsantrag eingereicht hat und der Brexit voraussichtlich Ende März 2019 vollzogen ist.
May unterzeichnet Brexit-Antrag

LÖCHER IM EU-BUDGET

Die EU steuert zu den Ausgaben der 28 Mitgliedsländer rund zwei Prozent bei. In Osteuropa ist der Anteil aber höher: In Polen stammen rund acht Prozent des Etats aus den Beiträgen der anderen EU-Staaten für Brüssel, in Bulgarien – dem ärmsten Land der EU – sind es fast ein Fünftel. Ohne Großbritannien kann die EU rund ein Sechstel weniger an Empfängerländer wie diese verteilen. Damit ist ein Streit zwischen den reicheren EU-Staaten in Westeuropa und dem Osten programmiert, wenn es um den siebenjährigen Budgetplan ab 2021 geht. In den Verhandlungen mit Großbritannien geht es zudem um die Zahlungsverpflichtungen der Briten gegenüber Brüssel. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker taxierte die Summe in der “Financial Times” zuletzt auf etwa 60 Milliarden Euro. Womöglich drohen die Briten mit der Kürzung von Mitteln für den laufenden Etat, wenn sich die Gespräche über die Schlussrechnung festfahren.

MACHTBALANCE GERÄT AUS DEN FUGEN

Mit dem Abschied Großbritanniens steigen die Sorgen von kleineren EU-Staaten wie den Niederlanden oder Dänemark, die sich bei Themen wie Freihandel oder Budgetdisziplin mit der Regierung in London auf einer Seite sehen. In Osteuropas Hauptstädten gibt es die Sorge, dass Deutschland und Frankreich die EU gegenüber den Nationalstaaten stärken wollen oder selbst Barrieren gegen Arbeitnehmer aus einkommensschwächeren Ländern errichten. Die Länder des Westbalkans verlieren mit den Briten wiederum einen ihrer Fürsprecher für einen EU-Beitritt. Die 19 Staaten der Eurozone haben zugleich im Rat eine noch größere Mehrheit gegenüber den Nicht-Euro-Staaten, wenn die Briten gehen, und können damit eine Politik zugunsten der Gemeinschaftswährung durchdrücken.

Militärisch neigt sich die Balance Richtung Frankreich, das mit dem Abschied der Briten einzige Atommacht innerhalb der EU und einziges permanentes Mitglied im UNO-Sicherheitsrat ist. Wirtschaftlich wiederum erhöht sich das deutsche Gewicht deutlich, da sich Frankreich nur langsam erholt. Am deutsch-französischen Tandem dürfte in Zukunft jedenfalls noch weniger vorbeiführen als bisher.

EU VERLIERT IN WELT AN EINFLUSS

Großbritannien war für die Kontinentaleuropäer stets eine wichtige Brücke zu den USA. Die diplomatische und militärische Präsenz der Briten in der Welt – auch wenn diese unter Mays Vorgänger David Cameron schon abnahm – kam der EU zugute. Die harte Linie der Londoner Regierung gegenüber Russland hat vor allem Polen und den baltischen Ländern Rückendeckung gegeben. Der weichere Ansatz von Frankreich, Italien und teilweise auch Deutschland schürt dort die Sorge, dass die Wirtschaftssanktionen gegen Russland nicht mehr lange aufrechterhalten werden können.

TABUBRUCH EU-AUSTRITT ALS VORBILD FÜR ANDERE?

Die 27 verbleibenden EU-Staaten haben zuletzt in Rom ihre Einigkeit betont, mit der sie dem Brexit-Schock begegnen wollen. Diese Einigkeit dürfte in den Verhandlungen mit der Londoner Regierung früh auf die Probe gestellt werden. In Brüssel wird zudem befürchtet, dass andere EU-Staaten zwar nicht dem britischen Beispiel eines Austritts folgen, aber doch damit drohen könnten, wenn ihnen die EU-Politik nicht passt.

WIEDERERSTARKEN FRANZÖSISCHER EU-KULTUR?

Für Brüssel bedeutet der Brexit im gewissen Umfang einen “brain drain”, also die Abwanderung hochqualifizierter Mitarbeiter aus den EU-Institutionen ins Königreich. Zwar sind längst nicht so viele Briten dort tätig wie etwa Deutsche oder Franzosen, ein Verlust an Kultur und Wissen bleibt trotzdem. Vor allem kleine EU-Länder schätzen den eher lockeren Umgang der Briten mit EU-Fragen und fürchten die Zunahme von Regulierung durch die eher zentralistisch eingestellten französischen EU-Beamten. Trotz anderer Hoffnungen in Paris dürfte Englisch der EU als eine der Amtssprachen aber erhalten bleiben, da die nord- und osteuropäischen Länder mit dem Französischen traditionell fremdeln.

Startschuss für Brexit-Verhandlungen

Neun Monate nach dem Brexit-Referendum wird es ernst: Einsam vor dem Union Jack unterschrieb Premierministerin Theresa May am Dienstagabend den Brief, der offiziell den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union einleitet. Sobald die Papiere am Mittwoch in Brüssel sind, beginnt das auf zwei Jahre angelegte Scheidungsdrama.

Für die EU ist es ein bitterer Tag – erstmals überhaupt kehrt ihr ein Mitglied den Rücken. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nennt es eine Tragödie.

Bis dieses Stück im März 2019 über die Bühne ist, wartet auf die Protagonisten viel Arbeit, und der Applaus am Ende ist keineswegs garantiert. Brüssel und London stehen vor einem Wust von knapp 21.000 EU-Regeln und Gesetzen, die bisher in allen 28 Ländern gelten und damit auch im Vereinigten Königreich. Vor allem aber müssen sie eine Handvoll hochkomplexer Themen lösen, die beide Seiten ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Darunter sind die Rechte der EU-Ausländer in Großbritannien und der Briten auf dem Kontinent. Rund 3,2 Millionen leben im Königreich, fast ein Drittel sind Polen. Arbeitserlaubnis und Pensionen – über solch existenziell wichtige Fragen will London schnell verhandeln, falls den etwa eine Million Briten in Kontinentaleuropa vergleichbare Garantien gegeben werden. Viele britische Unternehmen fürchten um ihre billigeren Arbeitskräfte wie Maurer und Zimmermädchen.

Apropos Geld: Großbritannien könnte von der EU noch eine Rechnung über bis zu 60 Milliarden Euro präsentiert bekommen. Gemeinsam eingegangene Verpflichtungen etwa für das EU-Budget müssten von London anteilig beglichen werden, hieß es in Brüssel. May konterte: Beim Referendum hätten die Briten nicht dafür gestimmt, solche Geldsummen an die EU zu zahlen. Nach einem britischen Gutachten kommt London kostenlos davon, wenn Großbritannien ungeregelt aus der EU ausscheidet. Der “Financial Times” zufolge gibt es von britischer Seite Hinweise, dass May hier etwas einlenken könnte.

EU-Unterhändler Michel Barnier warnt vor einem Abschied ohne gütliche Einigung, die Bürger und Unternehmen ins Ungewisse entließe. Auch die von London gewünschte “besondere” Beziehung mit den 27 verbliebenen EU-Ländern stünde dann wohl auf dem Spiel.

Bis Herbst 2018 soll der Deal fertig sein. Im Frühjahr 2019 wird Großbritannien ausscheiden. So sieht es der Artikel 50 des Vertrages von Lissabon vor. Der liefert zwar den Rahmen, aber keine Details, und ist noch nie angewandt worden. Unbekanntes Terrain also. Barnier beschrieb die Linie der EU so: “Wir werden entschieden sein, wir werden freundlich sein, wir werden niemals naiv sein.”

Aber nicht nur von der EU pfeift May kräftig Gegenwind auf dem ohnehin schwierigen Weg entgegen – auch im eigenen Land. In Schottland und in der Ex-Bürgerkriegsregion Nordirland nimmt der Ärger zu. Beide Landesteile stimmten mehrheitlich gegen den Brexit.

Als May verkündete, dass sie einen harten Brexit – also auch den Ausstieg aus dem Europäischen Binnenmarkt wolle – war das Maß für die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon voll. Sie will einen Sonderweg: Schottland soll zumindest im Europäischen Binnenmarkt bleiben. Das lehnt May ab. Beide Politikerinnen schalteten auf stur.

Die Folge: Das schottische Parlament stimmte Dienstagabend für eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit von Schottland. Dieses Referendum will Sturgeon vor dem Brexit abhalten, May ist dagegen. London muss für die Abstimmung Grünes Licht geben. Eine vertrackte Lage. Sturgeon rief die Brexit-Gegner zum Umzug nach Schottland auf: “Kommt hierher, um zu leben, zu arbeiten, zu investieren oder zu studieren!”

Auch die meisten Nordiren halten nichts vom Brexit und kämpfen zudem mit starken Spannungen und einer Regierungskrise im eigenen Landesteil. Vor allem die neue EU-Außengrenze zur Republik Irland, die der Brexit mit sich bringt, könnte laut Konfliktforschern den Frieden bedrohen: Der Handel auf der Insel wird erschwert, und eine feste Grenze mit Kontrollen reißt womöglich alte Wunden in der Ex-Bürgerkriegsregion auf. Im Nordirland-Konflikt kämpften proirische Katholiken gegen probritische Protestanten. Tausende Menschen starben.

Geschlossenheit zeigte Großbritannien seit dem Brexit-Referendum wohl nur an einem einzigen Tag: als ein Terroranschlag in der vergangenen Woche das Land erschütterte. Die Bilanz des Blutbads vor dem Londoner Parlament: fünf Tote, darunter der Attentäter, und etwa 50 Verletzte. Doch selbst da mischte sich unter den Trauerbekundungen am Zaun des Parlaments das eine oder andere Bekenntnis zur Europäischen Union.

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