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Verleihung des Tractatus an Ulrich Greiner für „Schamverlust“

Bürgermeister Ludwig Muxel, Ingrid Leinen-Greiner, Barbara Bleisch und Ulrich Greiner
Bürgermeister Ludwig Muxel, Ingrid Leinen-Greiner, Barbara Bleisch und Ulrich Greiner ©Florian Lechner
Die feierliche Verleihung des Tractatus an den Literaturkritiker Ulrich Greiner krönte den zweiten Tag des 19. Philosophicum Lech. Den renommierten Essay-Preis erhielt der langjährige Feuilletonchef der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ exemplarisch für sein vielbeachtetes Werk „Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur“.

Die Laudatorin Barbara Bleisch bezeichnete es als ein Buch, „das von großer Geistesschärfe zeugt und zugleich extrem lustvoll zu lesen ist“.

Es war in mehrfachem Sinne ein ganz besonderes Ereignis für ihn, wie Ulrich Greiner, der Tractatus-Preisträger 2015, bei seiner Dankesrede anmerkte. Dem bekannten Literaturkritiker wurde gestern der renommierte Essay-Preis des Philosophicum Lech exemplarisch für sein Werk „Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur“ überreicht. In der ebenso vielschichtigen wie anschaulichen Studie analysiert Greiner den kulturellen Wandel von Gefühlen wie Schuld, Scham und Peinlichkeit und greift dabei auf Alltagsbeobachtungen ebenso wie auf zahlreiche Beispiele aus der Weltliteratur zurück.

„Ulrich Greiner hütet sich davor, diesen Wandel der Gefühlkultur als Ausdruck einer moralischen Verwahrlosung zu sehen – und auf die übliche Kulturkritik einzudampfen. Er bleibt seiner subtilen Analyse der Phänomene stets treu und fügt sie zu einer elegant geschriebenen und philosophisch profunden Geschichte unserer Schamkultur – und damit auch zu einer Kulturgeschichte unseres Selbstverhältnisses“, so Barbara Bleisch in ihrer Laudatio. Die Schweizer Philosophin und Journalistin bildet gemeinsam mit dem Verleger und Schriftsteller Michael Krüger sowie dem Autor und Philosophen Franz Schuh die dreiköpfige Jury des Tractatus, der mit 25.000 Euro zu den höchstdotierten Buchpreisen im deutschsprachigen Raum gehört.

Preisgeil von anonymen Privatpersonen

Das Preisgeld für den Tractatus wird von drei anonym bleibenden Privatpersonen zur Verfügung gestellt, was das Publikum mit ebenso nachhaltigem Applaus bedachte wie die persönliche Dankesrede von Ulrich Greiner. Bei dieser meinte der Literaturkritiker einleitend, dass die Situation für ihn ebenso beglückend wie merkwürdig sei – fände er sich in dieser doch erstmals auf der anderen Seite, nämlich nicht als Juror wieder. Es freute ihn auch besonders, dass er den ersten Preis in seinem Leben exemplarisch für „Schamverlust“ erhielt – und somit für „dasjenige Buch, das mich am meisten beschäftigt hat und das im Innersten mit mir zusammenhängt.“ Die „persönliche Fußnote“, wie er es nannte, zum Abschluss: „Dies Auszeichnung ist ein besonders schönes Geburtstagsgeschenk, mit dem ich nicht gerechnet habe.“ Ulrich Greiner wird heute 70 Jahre alt.

Die Verleihung des Tractatus ist alljährlich einer der Höhepunkte des Philosophicum Lech, das heuer unter dem Titel „Neue Menschen! Bilden, optimieren, perfektionieren“ den allmählich omnipräsent avisierten Optimierungsprozessen sowie technizistischen Zukunftsentwürfen bis hin zur Vision eines perfekten transhumanen Wesens nachgeht. Wie gewohnt wurde die Vortragsreihe am Donnerstag Abend vom wissenschaftlichen Leiter des Philosophicum Lech Konrad Paul Liessmann eingeleitet. In bewährter Weise gab er dabei eine prononcierte Abhandlung zu den philosophischen Implikationen eines auf dem „Phantasma der Perfektion“ beruhenden neuen Menschenbildes zum Besten, die als Tour d’Horizon zugleich bereits die Themen und Fragestellungen der folgenden Tage anriss. „Unübersehbar sind nicht nur die technologischen Trends und die dazugehörigen intellektuellen, meist affirmativ vorgetragenen Theorien, sondern auch ein sich allmählich wandelndes Selbstverständnis des Menschen“, so der Philosoph.

Soziale Folgen von Enhancement

Auf Enhancement, sprich die Verbesserung bzw. Erweiterung menschlicher Eigenschaften durch technische Unterstützung, und somit auf einen zentralen Begriff im aktuellen Diskurs zur Optimierung kam am Freitag Vormittag bereits der erste Referent Bernward Gesang, Professor für Philosophie an der Universität Mannheim, zu sprechen. Unter dem Titel „Die Rückkehr des Prometheus“ beleuchtete er dessen ethische Problematik und widmete sich insbesondere dem Aspekt der sozialen Folgen von Enhancement. Zentral ist für ihn dabei die Unterscheidung von moderaten Verbesserungen – der Steigerung bereits vorhandener menschlicher Eigenschaften in moderaten Schritten – und radikalen Verbesserungen, die er ablehnt. Im darauf folgenden Vortrag setzte Thomas Damberger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt a. Main, bereits im Titel „Bildung vs. Perfektion“ eine deutliche Opposition. Sowohl bei der ökonomischen Bildungsvorstellung als auch beim Humane Enhancement sei das Menschliche aus dem Blick geraten, wie er betont und den „besonderen Blick“, Menschliches einfordert.

Folgte auf die vormittäglichen Vorträge bereits eine angeregte Publikumsdiskussion mit den Referenten, war dies auch am Nachmittag der Fall. Im Vortrag „Zöglinge der Luft. Versuch einer atmosphärischen Anthropologie“ näherte sich Eva Horn, Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Kulturtheorie an der Uni Wien, dem Thema Klima und dessen Wechselwirkung mit dem Menschen auf geisteswissenschaftlicher Ebene, was sowohl die kulturellen Ausprägungen als auch die „Atmosphären und ihre Erfahrbarkeit“ inkludiert. Nicht weniger originell erwies sich die zentrale These des folgenden Referates „Utopische Technologien in technologisierten Gesellschaften“ von Sascha Dickel, der Mitarbeiter für Wissenschaftssoziologe an der Technischen Universität München ist. Kernaussage: Die Cyborgisierung findet statt. Doch die transhumanistischen Fantasien sind blind für die tiefgreifenden Ambivalenzen jedweder Technisierung und sitzen einem Mythos auf. Man darf gespannt auf die weiteren Herangehensweisen an das heurige Thema des Philosophicum sein.

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