Als Projekt in “konzentrischen Kreisen” bezeichnete Grieser das neue Buch in seiner Entstehungsphase im Vorjahr. In seinen letzten beiden Werken “Das gibt’s nur in Wien” (2012) und “Landpartie” (2013) schilderte der Schriftsteller seine Erinnerungen an Wien und Reisen in die Bundesländer. In seinem jüngsten Buch wird der Leser wieder zurück in die Vergangenheit der Bundeshauptstadt versetzt, doch davon ausgehend geht es auch nach Deutschland und den Rest der Welt. Den Beginn machen erste Erfahrungen des Autors in Wien mitsamt des damit verbundenen Kulturschocks: “Werde ich von nun an den ‘Januar’ aus meinem Wortschatz tilgen müssen?” Kipferl statt Hörnchen, Fiaker statt Kutschen, Kren statt Meerrettich und Topfen statt Quark?
Ein Spaziergang durch Wien
Ausgehend von seinem ersten Wohnsitz in der Mariahilfer Straße begibt man sich zusammen mit dem Autor auf einen Spaziergang durch Wien. Grieser begleitet durch die verschiedenen historischen Schauplätze voller unscheinbarer und auffälliger Besonderheiten wie die sich ständig ändernden Straßennamen und deren Bedeutung (wie etwa die “Phorusgasse”). Er widmet sich dem “ersten Sprayer” Joseph Kyselak, der sich bereits zu Zeiten der k. u k.-Monarchie österreichweit verewigte oder der Kultur des Schnorrens und an Geiz grenzende Sparsamkeit in Wien.
Grieser erzählt aus seiner Kindheit
In “Wege, die man nicht vergißt” führt der Autor auch in mehreren Kapiteln in seine eigene Vergangenheit. Grieser erzählt von der schwierigen Kindheit im damals oberschlesischen Leobschütz (heute Glubczyce), wo er als der jüngste von drei Söhnen aufwuchs. Von der Flucht nach Deutschland bis zu den Geschehnissen um Kriegsende herum schildert der Schriftsteller Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Perspektive eines weit Zurückblickenden, selbst der Blick auf das frühere Familienhaus durch Google Maps wirkt für ihn fremd. Er erzählt von seinen Anfängen als Journalist in Zweibrücken, wo er seine Jugendjahre verbrachte, bis zu seinem Studium in Münster, wo er es versäumte, sich unter einem Pseudonym im Namen der ersten richtigen Studentenkneipe verewigen zu lassen.
Spannend erzählte Geschichten auf 280 Seiten
Das 280 Seiten lange Buch beinhaltet außer dem anekdotenreichen Exkurs in Griesers persönliche Vergangenheit ebenso die für ihn typischen, gut recherchierten Geschichten aus der Vergangenheit. Der Leser wird schließlich weg von Wien und Deutschland zu verschiedenen Schauplätzen in Österreich und dem Rest der Welt geführt. So versucht der Autor, die Reisen von Mozart und Goethe anhand literarischer Werke zurückzuverfolgen, erzählt von der “Kaiserstraße” und “Kaiserpromenade” und begibt sich nach St. Petersburg und Paris auf den Spuren von Nikolai Gogol und Ödön von Horvath. Auch nach New York, Ägypten, Libyen und Taipeh geht der Ausflug in die Geschichte – stets sprachlich ansprechend aufbereitet und spannend erzählt.
Historisches Insiderwissen
Die Affinität des 81-jährigen Bestsellerautors zu Insiderwissen, der Vergangenheit von Schauplätzen und Nahaufnahmen von kulturell historischen Geschehnissen ist unbestreitbar. Grieser ist trotz seines Hangs zur alten Rechtschreibung allerdings sehr wohl am Zahn der Zeit. So beachtet er bei seinen Schilderungen stets jüngste Entwicklungen und “reiht sich zum ersten Mal aktiv in die Riege der Feministen”, als das Cafe Hawelka ohne Erwähnung der Wirtin Josefine auf einer Briefmarke geehrt wird. Für Liebhaber von Literatur, Geschichte oder historischer Kuriositäten ist “Wege, die man nicht vergißt” ein gefundenes Fressen – die Erzählungen aus Wien und Griesers Aufwachsen in Deutschland darin eine willkommene Draufgabe.
Buchtipp: Dietmar Grieser: “Wege, die man nicht vergißt”, Amalthea Verlag, 280 S., 24,95 Euro