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Machtkampf im Libanon eskaliert

Mit großen Straßenblockaden und einem Aufruf der Opposition zum Generalstreik hat sich der Machtkampf im Libanon am Dienstag dramatisch verschärft.

Auf mehreren Zufahrtstraßen nach Beirut brannten Reifen und Fahrzeuge, bei Zusammenstößen zwischen oppositionellen Demonstranten und Anhängern der Regierungskoalition erlitten mehrere Menschen Verletzungen. Berichte, dass bei einer Schießerei ein Mensch getötet worden sei, wurden später dementiert. Das schiitisch-christliche Oppositionsbündnis versucht seit zwei Monaten, den Rücktritt von Ministerpräsident Fouad Siniora zu erzwingen, dessen Kabinett nach dem kollektiven Rücktritt der schiitischen Minister nicht mehr den Verfassungsauftrag zum Konfessionsproporz erfüllt.

Zunächst hatte es geheißen, dass ein Siniora-Anhänger bei einer Schießerei am Rande von Oppositionsprotesten im Norden des Landes getötet worden sei. Dann wurde mitgeteilt, der Mann sei bei dem Zusammenstoß schwer verletzt worden. Nach vorliegenden Informationen lieferten sich Mitglieder der Regierungskoalition „Block der Zukunft“ und der „Syrischen Nationalsozialistischen Partei“ einen Schusswechsel in der Ortschaft Halba. Die sunnitische „Syrische Nationalsozialistische Partei“ kämpft seit der französischen Mandatszeit zwischen den beiden Weltkriegen für ein „Großsyrien“ und verfügt im Libanon nur über eine kleine Anhängerschaft.

Angeführt wird das Oppositionsbündnis von der radikalen schiitischen Hisbollah und der „Freien Patriotischen Bewegung“ (CPL) des Ex-Armeechefs General Michel Aoun. Die Opposition, die sowohl pro- als auch anti-syrische Gruppen umfasst, verlangt die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, in der sie über eine Sperrminorität verfügt. Mehrere tausend Soldaten und Polizisten sowie Feuerwehrleute bemühten sich am Dienstag landesweit, die Straßen freizumachen. Dabei verhandelten sie auch mit Demonstranten. Zudem versuchten sie, Anhänger der Opposition und der Regierung voneinander zu trennen. Mindestens 15 Menschen erlitten nach Polizeiangaben in der Mitte und im Norden des Landes Schussverletzungen, weitere Verletzte gab es bei Zusammenstößen in mehreren Vororten Beiruts. Augenzeugenberichte und Fernsehbilder legten den Eindruck nahe, dass es der Opposition gelang, viele Stadtteile Beiruts sowie einige Landesteile lahm zu legen. Demonstranten blockierten unter anderem die Straßen zum Beiruter internationalen Flughafen und die Fernstraße in die Berge sowie nach Damaskus.

Am Donnerstag findet in Paris eine internationale Geberkonferenz für den Libanon statt. Ein Berater Sinioras dementierte Berichte, wonach sich der Regierungschef nicht mehr im Land aufhalte, sondern bereits nach Frankreich gereist sei. An der Konferenz werden Vertreter von rund dreißig Staaten, UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und Bevollmächtigte von Weltwährungsfonds und Weltbank teilnehmen. Die libanesische Regierung hofft auf Zusagen von mehr als vier Milliarden Dollar. Beirut hatte die Schäden, die dem Land durch den 34-tägigen Krieg mit Israel im Juli und August vorigen Jahres entstanden sind, auf annähernd drei Milliarden Euro beziffert. 15.000 Häuser, 80 Brücken und fast einhundert Straßen wurden bei der israelischen Offensive, die sich gegen die Miliz der Hisbollah richtete, beschädigt oder zerstört.

Krise im Libanon reißt alte Wunden auf

Schon wieder hängen schwarze Qualmwolken über Beirut. Auch im vergangenen Sommer war die libanesische Hauptstadt nach israelischen Luftangriffen auf die südlichen Schiiten-Vororte in einen schmutzig-schwarzen Schleier gehüllt. Diesmal sind es die brennenden Autoreifen der Regierungsgegner, die ihre Unheil verkündenden Rauchsignale über die Stadt schicken. Denn so friedlich wie der seit Wochen andauernde Sitzstreik vor dem Regierungsgebäude („Grand Sérail“) ist dieser von den Parteien wohl kalkulierte und präzise gesteuerte Wutausbruch der Demonstranten nicht.

Die brennenden Reifen, die Menschenketten und Schrottautos blockieren wichtige Zufahrtstraßen. Damit will die von der schiitischen Hisbollah angeführte Oppositionsbewegung sicherstellen, dass auch diejenigen nicht zur Arbeit fahren können, die sich dem von ihr ausgerufenen Generalstreik nicht anschließen wollen. Auf einigen Straßen kommt es zu Prügeleien zwischen Libanesen, die loyal zur Regierung von Ministerpräsident Fouad Siniora stehen, und Anhängern der Opposition. Steine fliegen, der Schulunterricht fällt aus. Staatsdiener, Geschäftsinhaber und Angestellte kommen nicht zur Arbeit.

Besonders erbittert geht es in der christlichen Küstenstadt Jounieh nördlich von Beirut zur Sache, wo sich die Anhänger der verfeindeten Christenführer General Michel Aoun und Samir Geagea gegenüberstehen. Wie viele Politiker haben auch der ehemalige Armeechef Aoun und der frühere Milizführer Geagea keine weiße Weste. Geagea musste wegen der ihm angelasteten Verbrechen während des Bürgerkrieges (1975-90) ins Gefängnis. Der nun mit den pro-syrischen Kräften verbündete Aoun war einst der Anführer der Syrien-Gegner und kam erst nach dem Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon 2005 aus dem französischen Exil zurück.

Zwar reißt der Konflikt zwischen den verschiedenen Christen-Fraktionen bei vielen Libanesen alte Wunden auf. Doch ist er letztlich nur ein Nebenschauplatz. Hauptstreitpunkt zwischen Regierung und Opposition ist die Frage, wie künftig das Verhältnis zur einstigen Schutz- und Ordnungsmacht Syrien aussehen soll, die sich nur schwer damit abfinden kann, dass sie ihren Einfluss über das Nachbarland weitgehend verloren hat. Die schiitische Hisbollah hält Syrien immer noch die Treue, schließlich ist die Führung in Damaskus neben dem Iran ihr wichtigster Verbündeter. Die von den Sunniten und einem Teil der Christen unterstützte Regierung des Ministerpräsidenten Fouad Siniora wirft den Syrern dagegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes vor.

Letztlich hängt vieles davon ab, wie die Auseinandersetzung um die Aufklärung der Morde am früheren Ministerpräsidenten Rafik Hariri und anderen anti-syrischen libanesischen Politikern weitergeht. Arabische Diplomaten, die davon überzeugt sind, dass die Syrer bei den Attentaten ihre Finger im Spiel hatten, sollen in den vergangenen Monaten versucht haben, einen „Handel“ zu organisieren. Dabei hätte der syrische Präsident Bashar al-Assad sein Gesicht wahren können, wenn er gleichzeitig verspreche, die Libanesen künftig in Ruhe zu lassen und Washington im Kampf gegen die Aufständischen im Irak zu unterstützen. Nach inoffiziellen Berichten soll dieser Versuch jedoch fehlgeschlagen sein, weil Assad den Handel angeblich abgelehnt hat.

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