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Katalonien-Krise: Greift Madrid in seiner Verzweiflung zur "nuklearen Option"?

Hochspannung vor Reaktion Rajoys auf erwartete Unabhängigkeitserklärung Kataloniens.
Hochspannung vor Reaktion Rajoys auf erwartete Unabhängigkeitserklärung Kataloniens. ©AP
Ganz Spanien wartet gebannt darauf, wie Regierungschef Mariano Rajoy auf die für Montag erwartete Unabhängigkeitserklärung Kataloniens reagieren wird. Eine Möglichkeit wäre die Entmachtung der Regionalregierung in Barcelona unter Carles Puigdemont. Rajoy würde dann die sogenannte "nukleare Option" in der spanischen Verfassung aktivieren, den Artikel 155.
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Dort wird auf die Verpflichtung der Regionalregierungen hingewiesen, sich an die Verfassung und das allgemeine Interesse ganz Spaniens zu halten. Tut eine Regionalregierung das nicht, ist die Zentralregierung zu “erforderlichen Maßnahmen” berechtigt, um laut Verfassungstext “die Autonome Gemeinschaft zu der zwangsweisen Erfüllung dieser Verpflichtungen anzuhalten”.

Rajoy muss bestimmte Schritte einhalten

Bevor es soweit kommt, muss Rajoy allerdings bestimmte Schritte einhalten. Zuerst müsste er Puigdemont offiziell auffordern, die in der Verfassung vorgegebenen Pflichten einzuhalten. Erst wenn dieser sich weigern sollte, muss Rajoy den Senat einschalten. In dieser Kammer sind die 17 verschiedenen Regionen Spaniens vertreten, die ihrerseits aus einer oder mehreren Provinzen bestehen. Erst wenn der Senat mit absoluter Mehrheit Rajoys Antrag billigt, ist die “nukleare Option” scharf gestellt. Geht es nach Parteizugehörigkeit, dürfte das kein Problem sein, denn im Senat gehören 147 der 264 Senatoren dem konservativen Partido Popular von Rajoy an.

Noch nie wurde Artikel 155 in Anspruch genommen

Mit der Aktivierung von Artikel 155 betritt der spanische Staat Neuland, noch nie wurde er in Anspruch genommen. Im Absatz zwei des Artikels heißt es vage: “Zum Zwecke der Ausführung der (…) Maßnahmen kann die Regierung allen Behörden der Autonomen Gemeinschaften Weisungen erteilen.” Das hieße, die Regierung in Madrid wäre weisungsbefugt gegenüber allen Einrichtungen der katalanischen Verwaltung. Allerdings haben bisher die katalanische Regierung und die ihr untergeordneten Behörden vielfach Anweisungen aus Madrid ignoriert. Die Verfassung gibt auch keinen zeitlichen Rahmen vor, in dem der Artikel 155 – einmal aktiviert – umgesetzt werden muss.

Militärische Gewalt ausgeschlossen?

In spanischen Medien wird seit Wochen spekuliert, was unter den notwendigen Maßnahmen zur Durchsetzung der Zwangsverwaltung Kataloniens zu verstehen sei. Unter den vielfach zitierten Verfassungsexperten wird demnach militärische Gewalt ausgeschlossen. So zitiert beispielsweise das Nachrichten-Portal “El Espanol” den Verfassungsrechtler Tomas Ramon Fernandez, zum Artikel 155: “Der hat nichts mit Panzern zu tun.”

Loslösung Kataloniens gravierender Verstoß gegen Verfassung

Unzweifelhaft ist, dass die Loslösung Kataloniens vom Rest Spaniens einen gravierenden Verstoß gegen die Verfassung darstellt. In Artikel 2 heißt es unmissverständlich: “Die Verfassung stützt sich auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, gemeinsames und unteilbares Vaterland aller Spanier, und anerkennt und gewährleistet das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen, die Bestandteil der Nation sind, und auf die Solidarität zwischen ihnen.”

Puigdemont wirft EU Untätigkeit vor

Nach dem umstrittenen Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien hat Regionalpräsident Carles Puigdemont die EU scharf kritisiert und dem Staatenbund Untätigkeit vorgeworfen. “Warum wird in der EU das Polizeivorgehen nicht schärfer kritisiert?”, sagte Puigdemont der “Bild”-Zeitung vom Donnerstag mit Blick auf das gewaltsame Vorgehen der spanischen Polizei.

Es seien “fundamentale Freiheitsrechte von europäischen Bürgern verletzt” worden, sagte Puigdemont. “Aber von der EU kommt nichts. Wenn das Gleiche in der Türkei, Polen oder Ungarn passiert, ist die Empörung dagegen riesig”, kritisierte er.

Puigdemont hält seine Verhaftung für möglich

Puigdemont sagte weiter, dass er seine Verhaftung für möglich halte. “Ich habe davor persönlich keine Angst”, sagte er der “Bild”. “Mich wundert nichts mehr, was die spanische Regierung tut. Auch meine Verhaftung ist möglich, was ein barbarischer Schritt wäre”, sagte der Regionalpräsident. Der Zentralregierung in Madrid warf er vor, “einen Fehler nach dem anderen” zu machen und die Realität auszublenden.

“Werden keine Gewalt anwenden”

Puigdemont kündigte zudem an, seine Regionalregierung werde “soweit gehen, wie die Menschen es wollen”, werde aber keine Gewalt anwenden. “Wir waren immer eine friedliche Bewegung”, sagte er. Er sei sich sicher, dass Spanien “den Willen von so vielen Menschen nicht ignorieren” könne.

Bei dem von Madrid untersagten Referendum hatten am Sonntag nach Angaben der katalanischen Regionalregierung 90 Prozent der Wähler für eine Unabhängigkeit von Spanien gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei 42 Prozent, allerdings wurden zahlreiche Wahlurnen beschlagnahmt und Wahllokale von der spanischen Polizei geschlossen.

EU-Kommissar Oettinger befürchtet Bürgerkrieg in Spanien

Der Konflikt um die Unabhängigkeit der spanischen Region Katalonien birgt für EU-Kommissar Günther Oettinger die Gefahr eines Bürgerkrieges. “Die Lage ist sehr, sehr besorgniserregend. Da ist ein Bürgerkrieg vorstellbar, mitten in Europa”, sagte der deutsche CDU-Politiker am Donnerstag bei einer Podiumsdiskussion in München.

“Man kann nur hoffen, dass zwischen Madrid und Barcelona bald ein Gesprächsfaden aufgenommen wird”, so Oettinger. Die EU könne sich in den Streit nicht aus eigenem Antrieb einmischen. “Eine Moderation durch die EU wäre nur denkbar, wenn wir gefragt werden, aber nicht ungefragt”, betonte Oettinger. Darüber hinaus sei die EU an die Regelungen in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten gebunden und müsse diese auch achten. Ein Referendum in einer Region wie Katalonien sei in der spanischen Verfassung nicht vorgesehen.

“Die Katalanen haben das Gefühl, dass ihre wirtschaftlichen Mehrleistungen in Gesamtspanien vervespert werden und nichts mehr für die Region übrig bleibt”, sagte Oettinger. Es müsse daher das Ziel sein, diese fehlende Ausgleichsbilanz in Spanien zu verbessern.

Die spanische Regierung hatte zuletzt ein neues Gesprächsangebot der Separatisten kategorisch abgelehnt. Für Montag haben die Parteien der katalanischen Koalitionsregierung in Barcelona eine Plenarsitzung des Regionalparlaments einberufen, bei der die Unabhängigkeit ausgerufen werden könnte. Bei einem umstrittenen “verbindlichen Referendum” hatte am Sonntag eine deutliche Mehrheit für eine Unabhängigkeit Kataloniens gestimmt.

(APA/Red.)

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